Porträt

Die Partisanin

»Weil ich Jüdin war, bekam ich anfangs keinen Studienplatz«: Sofia Piatova (83) aus Freiburg Foto: Rita Eggstein

Porträt

Die Partisanin

Sofia Piatova überlebte die Schoa und arbeitete in St. Petersburg als Kinderärztin

von Anja Bochtler  29.02.2016 19:06 Uhr

Mein Enkel Filipp hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Russland meschugge – Putin, meine Familie und andere Außenseiter. Darin schreibt er über uns, seine Familie, vor allem aber über seine Reise durch Russland – das Land, in dem er 1991 geboren wurde, aber kaum gelebt hat. Als er ein Jahr alt war, kam er mit uns allen nach Südbaden. Dort ist er aufgewachsen. Inzwischen lebt er als Journalist in Berlin.

Das Buch hat er uns gewidmet, seinen Großeltern. Darüber freue ich mich sehr. Mein Mann ist leider seit zwei Jahren tot. Seitdem lebe ich allein in Freiburg und habe viel Zeit zum Nachdenken. Auch über meine Kindheit, über die ich mein Leben lang fast nie gesprochen habe. Meinem Sohn habe ich erst sehr spät davon erzählt, meinem Enkel nur einmal. Es ist zu schwer. Für mich und die Menschen, die mir nahe sind. Mein Mann war lange sehr krank. Er lag im Bett, und ich habe ihn gepflegt und mich um alles gekümmert. Damals war ich sehr beschäftigt, ich hatte immer viel zu tun. Doch dann ist er am 3. März 2014 gestorben. Danach waren meine Tage zuerst furchtbar leer.

Freiburg Inzwischen habe ich mir angewöhnt, jeden Tag zweimal spazieren zu gehen. Frische Luft ist so wichtig! Ich habe 40 Jahre lang in St. Petersburg als Kinderärztin gearbeitet, ein dortiger Kollege sagte immer: Ein Tag ohne frische Luft raubt dem Leben ein Jahr Gesundheit. Vor 20 Jahren bin ich mit meinem Mann in eine betreute Wohnanlage in unserer neuen Heimat Freiburg gezogen, dort lebe ich immer noch, nur inzwischen allein. Ich lese viel, Zeitungen und Bücher. Das genieße ich, denn dafür hatte ich früher zu wenig Zeit. Am liebsten mag ich die russischen Klassiker: Puschkin, Gorki, Tschechow.

Früher habe ich viel gekocht, aber jetzt, nur für mich alleine, mache ich das nicht mehr gern. Meistens reicht mir ein großer Topf Borschtsch für eine ganze Woche.

Sonntags laden mich immer mein Sohn und meine Schwiegertochter zu sich nach Bad Krozingen ein. Ich habe einen so guten Sohn und eine noch bessere Schwiegertochter! Meine Enkelin ist 18 Jahre alt, sie geht noch zur Schule. Oft ruft, wenn ich gerade dort bin, mein Enkel aus Berlin an. Meistens will er wissen, was wir gerade gegessen haben. Da überlege ich mir manchmal, ob er zu wenig isst in Berlin!

Schoa Meine Kindheit war keine Kindheit. Ich weiß nicht einmal, wann ich geboren wurde, denn alle Papiere gingen im Krieg verloren. Höchstwahrscheinlich kam ich 1933 zur Welt, in Puchowitschi, in der Nähe von Minsk. Nur mein Vater und ich haben den Krieg überlebt. Meine Mutter, meine zwei Geschwister und fast alle anderen aus meiner Familie sind ermordet worden. Mit der deutschen Besatzung und den Plünderungen durch die Nachbarn fing alles an. Später ging mein Vater mit seinem Bruder in den Wald, sie gehörten zu den ersten Partisanen in der Gegend.

Ich lebte mit meinem Großvater, meiner Mutter und meinen Geschwistern im Ghetto, am Rand von Puchowitschi, wo uns die Deutschen zusammengetrieben hatten. Eines Tages, an einem frühen Morgen im September 1941, wurden alle auf den Platz hinausgetrieben. Es fielen Schüsse. Mein Großvater fiel tot um. Meine Mutter hat furchtbar geschrien und geweint. Kurz danach hat sie mir ganz schnell meinen Wintermantel und andere Dinge angezogen und mich drinnen hinter dem Ofen in einer Ecke versteckt. Ich war die Älteste von uns drei Kindern, damals acht Jahre alt. Sie musste wieder hinaus auf den Platz, zusammen mit meiner sechsjährigen Schwester und meinem Bruder, der zwei Jahre alt war.

Ich blieb zurück und wusste, dass ich mich nicht rühren durfte. In meinem Versteck saß ich völlig allein auf einem Haufen mit Kleidung und anderen Dingen. Von draußen hörte ich Lärm und Schreie. Als es irgendwann ruhig wurde, ging ich hinaus. Ich kannte kaum jemanden außer den Juden, und die waren nun alle weg. Ich suchte einen Kollegen meiner Mutter. Er arbeitete in der Sparkasse, die sie geleitet hatte. Als ich irgendwann hingefunden hatte, sagte er mir, dass ich nur eine Nacht bleiben könne. Er hatte Angst, eine Jüdin zu verstecken. In dieser Nacht kamen mein Vater und mein Onkel zu ihm und nahmen mich mit. Alle anderen aus meiner Familie waren tot.

Wir lebten nun in den Wäldern. Die Nächte verbrachten wir in Scheunen und Schweineställen, oft mussten wir Schweinefutter essen, um zu überleben. Damals konnte ich mich nie richtig waschen. Ich hatte Läuse, und um sie loszuwerden, habe ich meine Kleidung über dem Feuer ausgeschüttelt. Als mein Onkel bei einer Bombardierung ums Leben kam, waren nur noch mein Vater und ich übrig.

Ab 1942 waren wir bei den Partisanen. Ich strickte für sie Socken und war als Kundschafterin unterwegs, ich überbrachte Botschaften. Als wir von den Deutschen eingekesselt wurden, blieben ein jüngerer Junge und ich allein zurück. Wir wurden verhört, kamen in ein Kinderheim und hatten große Angst. Eine Erzieherin rettete mich zum Glück, sie brachte mich zu ihren Verwandten in eine sehr nette Familie. Dort ging es mir gut. Hier fand mich nach dem Krieg mein Vater. Er hatte mich überall gesucht.

beruf Wir kehrten zurück nach Puchowitschi. Dort war fast alles abgebrannt. Nur ein Blockhaus, das nie fertig gebaut worden war, stand noch. Mein Vater und ich bauten es aus und zogen ein. Später heiratete mein Vater noch einmal. Seine Frau war auch Partisanin gewesen. Bald bekam ich eine Halbschwester. Mein Vater und ich wollten beide, dass ich Ärztin werde. 1952 fuhr ich mit meiner besten Freundin nach Leningrad, dort war die einzige Fakultät für Kindermedizin. Wir bestanden beide die Aufnahmeprüfung, doch ich bekam trotzdem keinen Studienplatz, weil ich Jüdin war.

Erst als mir mein Vater eine Bestätigung der Partisanen über unsere Zeit als Kämpfer besorgte, klappte es plötzlich doch noch. So konnte ich Kinderärztin werden. Ich habe fast 40 Jahre lang immer sehr viel gearbeitet – als Bezirksärztin, Abteilungsleiterin und Inspektorin der Pädiatrie.

FAmilie 1952 lernte ich bei Freunden in St. Petersburg meinen Mann kennen. 1955 heirateten wir. Mein Vater bereitete für uns eine traditionelle jüdische Hochzeit vor, mit Chuppa, Minjan und Gefilte Fisch. Daran werde ich mich immer erinnern. Direkt danach starb mein Vater völlig unerwartet. Er wurde nur 49 Jahre alt.

Unser Sohn Michael wurde 1959 geboren. Anfang der 90er-Jahre entschloss er sich, mit seiner Familie nach Deutschland auszuwandern. Er ist Ingenieur, meine Schwiegertochter Musiklehrerin. Ich habe nur diesen einen Sohn, darum war es für uns klar, dass wir mit ihm ziehen würden. Seit 1992 leben wir alle in Südbaden. Mit den wenigen meiner Verwandten, die überlebt haben, bin ich eng verbunden: Zwei Cousins leben in Boston und New York, meine Halbschwester wohnt in Haifa. Wir telefonieren und skypen regelmäßig und besuchen einander.

Ich wollte damals nicht nach Deutschland kommen. Die ersten Jahre waren sehr schwer für mich. Immer, wenn ich Deutsch hörte, kamen die alten Erinnerungen in mir hoch, mit dem schlimmen Gefühl, verfolgt zu sein. Es hat viel Zeit gebraucht, aber jetzt ist es viel besser geworden. Inzwischen fühle ich mich wohl, bin gut integriert und habe enge Freunde. Nur mit der Sprache ist es nicht immer einfach. Aber ich kann Jiddisch, das hilft mir, Deutsch besser zu verstehen. Jede Woche und an allen Feiertagen bin ich bei der jüdischen Gemeinde in der Synagoge. Vor zwei Jahren habe ich zusammen mit anderen Gemeindemitgliedern bei einer städtischen Gedenkveranstaltung erstmals meine Geschichte erzählt.

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