Diese Suche nach einer verschwundenen Stradivari-Geige hat alles, was eine spannende Story braucht: einen geplünderten Banktresor, gefälschte Provenienz-Papiere und den berühmten detektivischen Zufall. Denn 80 Jahre lang galt die Violine der Familie Mendelssohn als verschollen, nun ist sie wahrscheinlich wieder aufgetaucht – unter anderem Namen und mit einer anderen Geschichte über ihre Herkunft. Der neue Besitzer reagiert nicht auf Anfrage dieser Zeitung.
Für die Entdeckung spielte der Zufall eine entscheidende Rolle. Ein Katalog in Tokio hatte 2008 die Geige abgebildet, und zwar unter dem Namen »1707 Stella«. Im vergangenen Jahr fiel er der Juristin und Geigenbauerin Carla Shapreau aus den USA in die Hände, sie fing an zu recherchieren. Die Bezeichnung »1707 Stella« hatte sie aufhorchen lassen, sodass sie sich veranlasst fühlte, Fotos mehrerer Instrumente zu vergleichen. Sie studierte die Maserungen des Holzes und war sich sicher: Das hier konnte nur die Mendelssohn-Stradivari sein, nach der sie schon länger suchte.
Als Leiterin des »Lost Music Project« deckt Shapreau den Raub materieller musikalischer Güter in Europa während der Nazizeit und dessen Folgen auf. Jüngst publizierte sie auf der Homepage in einem vorläufigen Bericht die Neuigkeiten, die nun für Furore sorgen. »Für unsere Familie hat die Violine einen hohen symbolischen Wert«, so David Rosenthal, ein Enkelsohn von Lilli Mendelssohn, der als Musiker in San Francisco lebt.
»Ich wuchs mit Geschichten über diese Geige und ihren Diebstahl auf«
»Ich wuchs mit Geschichten über diese Geige und ihren Diebstahl auf, und meine Mutter, die ebenfalls Lilli hieß, war immer traurig, wenn das Thema zur Sprache kam. Die meisten in der Familie dachten, die Mendelssohn-Stradivari-Geige von 1709 sei zerstört, seit sie während der Nazizeit aus unserem Berliner Banksafe gestohlen worden war.« In seiner Familie bezeichnet man sie immer noch als die Geige der Großmutter Lilli. Sie sei ein wichtiges Stück des Erbes der Familie Mendelssohn-Bohnke. »Sie verbindet uns auf sehr tiefe und emotionale Weise mit unserer Vergangenheit«, sagt David Rosenthal.
Für die Familie hat die Violine einen hohen symbolischen Wert.
In den 1920er-Jahren traf sich die Familie regelmäßig, um Kammermusik zu spielen. Bankier Franz von Mendelssohn, Nachfahre von Moses Mendelssohn, lud dazu stets in seine Villa in den Grunewald ein. Mit von der Partie war oft seine Tochter Lilli, die von ihm »die kleine Mendelssohn« geschenkt bekommen hatte, wie die Stradivari in der Familie liebevoll genannt wurde. Die Berufsmusikerin war mit dem Komponisten, Dirigenten und Bratschisten Emil Bohnke verheiratet. Sie hatten drei Kinder.
Dann kam es zu einem schweren Schicksalsschlag. Das junge Paar kam 1928 bei einem Autounfall ums Leben. Franz von Mendelssohn soll sich vom frühen Tod seiner Lieblingstochter nicht mehr erholt haben. Er und seine Frau Marie nahmen ihre drei kleinen Enkelkinder bei sich auf. Lillis Stradivari blieb fortan im Geigenkasten. Ihr Vater ließ noch ein Wertgutachten erstellen – das später Carla Shapreau bei ihren Recherchen sehr hilfreich sein sollte. Dann verwahrte er sie in einem Schließfach der Mendelssohn-Bank. Die Geige sollte einmal den drei Kindern gehören.
Keine Möglichkeit mehr, Wertgegenstände zur Absicherung der Familie ins Ausland zu schaffen
1933 kam Hitler an die Macht. Franz von Mendelssohn, der trotz seiner evangelischen Taufe bei den Nazis als Jude galt, fand keine Möglichkeit mehr, seine Wertgegenstände zur Absicherung der Familie ins Ausland zu schaffen. Auch seine Instrumentensammlung konnte nicht mehr verschickt werden. Er starb 1935.
Drei Jahre später wurde die Mendelssohn-Bank liquidiert und von der Deutschen Bank übernommen. Die Immobilien der Familie Mendelssohn wurden zwangsverkauft. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs trafen sowjetische Truppen in Berlin ein, was mit schwerem Artilleriebeschuss und Straßenkämpfen einherging. Angehörige der russischen Armee übernahmen die Kontrolle über die Gebäude der Deutschen Bank, und es kam zu Plünderungen.
Noch 1945 erkundigte sich Walther Bohnke, der älteste Sohn von Lilli, bei der Deutschen Bank nach dem Instrument. Vergeblich, das Schließfach sei leer gewesen, habe man ihm mitgeteilt. Bohnke meldete den Verlust und reichte beim deutschen Innenministerium eine Anzeige ein. Diese Akte wurde später an die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste weitergeleitet – aber die Violine blieb verschollen. Bohnke wollte nicht aufgeben.
1958 schaltete er Anzeigen im Fachmagazin »Strad« und in der Zeitschrift »Die Weltkunst«. »Gesucht wird eine Geige«, so die Überschrift. Sie sei nachweislich eine Schöpfung von Antonio Stradivari und verfüge über »ausgezeichnete Toneigenschaften«. 1930 sei ihr Wert auf 80.000 Reichsmark beziffert worden, heißt es in der Anzeige. Die Suche blieb erfolglos.
Weder eine dokumentierte Herkunft noch eine dokumentierte Geschichte
Erst 1995 sei das Instrument wieder aufgetaucht, meint Shapreau. Und zwar in Paris bei einem Geigenbauer. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Violine weder eine dokumentierte Herkunft noch eine dokumentierte Geschichte. Da der Geigenbauer das Instrument nicht erwerben wollte, hätte er sich nicht weiter damit beschäftigt. Und doch gibt es ein Provenienz-Gutachten von 2005, das den Briefkopf seines Geschäfts trägt. Wahrschscheinlich gefälscht. Bis heute wisse man nicht, wer dafür verantwortlich sei, so David Rosenthal. In dem Gutachten heißt es, dass die Geige aus dem Besitz eines französischen Aristokraten, der im Zuge der Französischen Revolution ins Exil in die Niederlande gegangen sei, stamme. Vor Kurzem habe der Geigenbauer den damaligen Kunden kontaktiert, der ihm nun berichtete, dass er das Instrument 1953 von einem deutschen Geigenhändler erworben habe, der in Moskau Geschäfte machte.
Im Jahr 2000 sollte das Auktionshaus »Tarisio« das Instrument im Auftrag eines Klienten verkaufen. In seinem Blog auf der Website von Tarisio schreibt Geschäftsführer Jason Price, er sei der »Stella« damals persönlich begegnet, als sie sich in Tarisios Kommissionsbesitz befand. Ihr Wert wurde auf 1,2 bis 1,5 Millionen Dollar geschätzt. »Sie lag mehrere Monate im Tresor. Aber das war lange, bevor ich wusste – um es klarzustellen: lange, bevor irgendjemand wusste –, dass es sich um die gestohlene Mendelssohn-Stradivari handelte.«
Daten und Dokumente aus dem eigenen Archiv waren von entscheidender Bedeutung für die Rekonstruktion der angegebenen Geschichte der »Stella« und der »Mendelssohn«. Die Aufzeichnungen der beiden Instrumente wurden zusammengeführt, und die Geige trägt nun den Namen »Mendelssohn«, meldet Tarisio, das weltweit führende Auktionshaus für Streichinstrumente. Es hat die rund 650 Instrumente des italienischen Geigenbauers inventarisiert, die sich noch in Umlauf befinden.
Vor 20 Jahren erwarb der japanische Geiger Eijin Nimura das Instrument.
In Sachen Provenienz, heißt es bei Tarisio, lege man mittlerweile viel Wert auf Transparenz, was die Herkunft und den Wert der Instrumente angeht. Auch deshalb wurde vor Jahren eine Liste mit vermissten Instrumenten angelegt. »Die kleine Mendelssohn« steht unter der Nummer 46611 ebenfalls auf dieser.
Und dann kam ein Katalog in Tokio mit Fotografien mehrerer wertvoller Geigen heraus. Darunter ein Foto von »Stella«. Da war das Instrument bereits im Besitz des japanischen Geigers Eijin Nimura, der es um 2005 erworben hatte und bisher von einer geklärten Provenienz ausgegangen war. Die Angehörigen der Familie Mendelssohn wollten gleich nach der Entdeckung mit ihm ins Gespräch kommen. »Er hat sich jedoch geweigert«, sagt Rosenthal. »Wir wären sowohl mit der Rückgabe des Instruments als auch mit einer Entschädigung in Höhe des fairen Marktwerts der Geige zufrieden.«
Die Familienmitglieder kritisieren Nimuras Verhalten
Die Familienmitglieder kritisieren auch Nimuras Verhalten. Denn der Japaner konzertiert mit dem Instrument immer wieder bei Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Holocaust. »Wenn man davon ausgeht, dass er sich der wahren Herkunft der Geige nicht bewusst war, kann man ihm keinen Vorwurf machen. Da er nun jedoch die wahre Herkunft der Geige kennt und sich weigert, sich zu entschuldigen, ist sein Verhalten völlig unangemessen und, offen gesagt, beleidigend und skandalös«, betont Rosenthal.
Nun möchte die Familie Anwälte einschalten. Der Berliner Rechtsanwalt Nathan Gelbart meint auf Nachfrage der »Jüdischen Allgemeinen«, dass ein berechtigter Erbe grundsätzlich die Herausgabe des gestohlenen Instruments von Eijin Nimura verlangen könne, dieser sich aber womöglich auf die sogenannte Ersitzung berufen kann, derzufolge es sich nach zehn Jahren gutgläubigen Besitzes um einen rechtmäßigen Eigentumserwerb handelt. Es sei daher – wie so oft bei Raubkunst und insbesondere bei privaten Besitzern – eine Frage der Moral und weniger eine rechtliche Frage.
Auf der Homepage von Eijin Nimura wird bis Redaktionsschluss »Stella« weiterhin als sein Instrument genannt.