Judith Kessler

Die Geschichtenjägerin

Judith Kessler ist immer offen für neue und interessante Geschichten – und arbeitet dabei sehr gern allein. Foto: Rolf Walter

Ein perfekter Tag. Morgens den Computer anschalten und loslegen – so stellt ihn sich Judith Kessler vor. Ihre Mission: herausfinden, was keiner weiß, die Nadel im Heuhaufen finden und die Ergebnisse in ihrem Blog veröffentlichen. »Ich bin nicht so kommunikativ, wie man vielleicht auf den ersten Blick von mir denkt, sondern sitze am liebsten im stillen Kämmerlein.« Die Einsamkeit beim Schreiben schätzt sie.

Es interessiere sie alles, was »verschüttet« ist. Leute, die keiner kennt, an die sich keiner erinnert. Da fängt sie an, Archive zu durchstöbern. Jüngstes Ergebnis: Ende August erscheint ihr neues Buch Kann denn Liebe Sünde sein? Auf den Spuren des Liedtexters Bruno Balz. Der Berliner Nicolai Verlag hatte sie angefragt, ob sie es schreiben möchte.

In der Sozialabteilung fing sie an, später war sie für die Monatszeitschrift »jüdisches berlin« zuständig.

In dem Buch räumt sie mit den Legenden über »Hitlers schwulen Hitschreiber« auf. Doch die meisten kennen Judith Kessler von ihrer Arbeit bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, bei der sie 35 Jahre lang gewirkt hat. In der Sozialabteilung fing sie an, später war sie für die Monatszeitschrift »jüdisches berlin« zuständig. Zuletzt gehörte sie ebenso dem Programmteam der Jüdischen Volkshochschule Berlin an. Nun hat sie ihren Schreibtisch an der Oranienburger Straße leergeräumt, um als »Priva­tiere« weiterzuarbeiten, wie sie sagt.

In Polen ist sie aufgewachsen, kam aber als Zwölfjährige nach Berlin. Nach ihrem Studium der Sprach- und Literaturwissenschaften, Politik und Soziologie war sie auch Buchbinderin, Puppenbauerin, Hörspielautorin sowie Polnisch-Dolmetscherin und Jiddisch-Übersetzerin.

Die Einsamkeit beim Schreiben schätzt sie.

1990 begegnete sie Maria Brauner, die ebenfalls aus Polen kam und damals Sozialdezernentin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin war. »Da ich Polnisch sprach, gewann sie mich für die Sozialabteilung«, sagt die heute 65-Jährige. »Maria Brauner redete wie meine Mutter, sie wurde für mich Familienersatz.« Ebenso war sie eng mit Ruth Galinski befreundet, der Ehefrau von Heinz Galinski, dem ehemaligen Gemeindevorsitzenden. Ruth Galinski und Rabbiner Andreas Nachama wurden schließlich Judith Kesslers Trauzeugen. Damals lebten viele polnische Jüdinnen und Juden in Berlin, die glücklich waren, von jemandem unterstützt zu werden, der dieselbe Sprache beherrschte.

Aber auch ihre Russischkenntnisse halfen Kessler in der Sozialabteilung. »Es war eine tolle Zeit, jeder kannte jeden, die Hälfte der Geschichten der Zuwanderer gingen über meinen Schreibtisch.« Da sie aber bereits journalistisch gearbeitet hatte, wurde ihr bald das Gemeindemagazin »jüdisches berlin« anvertraut. Sie redigierte und layoutete es von der ersten Nummer im Januar 1998 bis zur Nr. 275 im Juni 2025.

Dank »genealogischer Spürnase, Recherche-Verbissenheit und Puzzlerei«, wie sie ihre Arbeit bezeichnet, konnte sie erfolgreich Menschen helfen, die sich auf der Suche nach ihren Vorfahren oder Angehörigen an die Berliner Gemeinde wandten. Sie hat unzählige Male den Anfang eines »roten Fadens«, verlorene Daten, Namen oder verschollen geglaubte Gräber ausfindig gemacht und Verwandte zusammengebracht, die zuvor nicht einmal voneinander wussten. Viele Familien hätten sich so verbunden mit Kessler gefühlt, dass sie sie »adoptiert« hätten und ihr immer wieder neue »Fälle« zuschickten.

»Glücklicherweise hat der Tag aber 24 Stunden«, sagt Judith Kessler. So findet sie noch die Zeit, Bücher, Essays und Artikel zu jüdischen Biografien und Orten, zur deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte und jüdischen Gegenwartskultur zu schreiben. Und Bücher wie Jüdisches im Grünen. Ausflugsziele im Berliner Umland und Gefängnisaufzeichnungen der jüdischen Psychoanalytikerin Edith Jacobson

Judith Kessler ist aber auch Mitbetreiberin des Jüdischen Kulturschiffs MS Goldberg.

Da Judith Kessler sich buchstäblich für alles und jede(n) interessiert und gern auch andere an oft mit der Lupe gesuchten Rechercheergebnissen teilhaben lässt, hat sie die Webseite »Yupedia.blog – Fußnoten zur Geschichte« eingerichtet. Dort heißt es: »YUPEDIA ist ein Appendix ihrer Vorlieben für Geschichte(n), Vergessene(s), Nebengleise, Skurriles, Kleingeschriebenes und Ausgrabungen aller Art.« Die Webseite lädt zum Stöbern in den Kategorien »Diktaturen«, »Entdecker:innen«, »Ganoven & Scharlatane«, »Mischpochologie« oder »Wilde Chajes« ein.
Derzeit ist sie unterwegs zum Nordkap. Mit Schlafsack und Zelt.

Judith Kessler ist aber auch Mitbetreiberin des Jüdischen Kulturschiffs MS Goldberg, das seit dem Start 2022 eine ideale Spielwiese für ihre Talente und Interessen bietet. Gerade hat sie eine Ausstellung zum jüdischen Theater kuratiert, sie gestaltet die Plakate für alle Programme, holt Künstler an Bord, schreibt biografisch-musikalische Bühnencollagen über ihre Lieblinge – etwa über Kurt Weill, Friedrich Hollaender, Mascha Kaléko, Fanny Hensel, Selma Merbaum, Sigmund Freud oder historische »Wunderweiber« und steht in diesen Programmen auch selbst auf der Bühne – »und nach der Vorstellung mit einem Gin Tonic auf dem Deck«. Kontext zu liefern – beispielsweise zu den jüdischen Autoren von Songs, die jeder kennt, ohne sich ihrer Herkunft bewusst zu sein – ist ihrer Ansicht ein Weg, Geschichtsvergessenheit und Antisemitismus entgegenzuwirken.

Als Fan von Grassroot-Bewegungen gehörte sie so auch etliche Jahre zu den Organisatoren und zum Vorstand von Limmud Deutschland. Seit 2013 ist sie im Vorstand der Stiftung Zurückgeben zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft aktiv. Perfekte Tage ohne Computer? Könnte sein, dass sie diese gerade genießt. Denn derzeit ist sie unterwegs zum Nordkap. Mit Schlafsack und einem Zelt. »Da werde ich vielleicht mit Elchen und Rentieren über ihre osteuropäischen Wurzeln diskutieren.«

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