Jiddisch

Der unerfüllte Traum

Gennady Estraikh ist Professor für Jüdische Studien an der New York University. Foto: Thomas J. M. Hauzenberger

Kaum war Evita Wiecki 2010 Jiddisch-Dozentin in München geworden, entwickelte sie, tatkräftig unterstützt von ihrem Chef am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur, dem Historiker Michael Brenner, ein Konzept für einen alljährlichen Vortrag in Jiddisch. In dieser Reihe, die in enger Zusammenarbeit mit dem Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde durchgeführt wird, waren seit 2011 Jiddisch-Koryphäen wie Chava Turnian­sky, Jeffrey Shandler, Anna Shternshis, Kalman Weiser und Michael Wex – allesamt Jiddisch-Muttersprachler – zu Gast.

Mit Krankheit und Tod von Evita Wiecki (1968–2022) gab es eine Unterbrechung. Doch schon 2023 luden Brenner und die neue Jiddisch-Lektorin Daria Vakhrushova zu einem Jiddisch-Symposium in memoriam ein. Dabei wurde beschlossen, den Scholem-Alejchem-Vortrag künftig »in on­gedenk fun Evita Wiecki s‹‹L« fortzuführen. An all das erinnerte Phillip Lenhard, Vertreter des derzeit in Washington weilenden Lehrstuhlinhabers Michael Brenner.

Daria Vakhrushova übernahm die Vorstellung des diesjährigen Referenten Gennady Estraikh, der 1952 im sowjetischen Saporischschja geboren wurde. Diese seit 1991 zur Ukraine gehörende Stadt und Verwaltungseinheit im Südosten des Landes ist seit ihrer Annexion in Wladimir Putins Scheinreferendum im September 2022 heiß umkämpftes Kriegsgebiet.

Mit territorialen Machtplänen kennt sich Estraikh, Sohn jüdischer Einwanderer aus Litauen, aus.

Mit territorialen Machtplänen kennt sich Estraikh, Sohn jüdischer Einwanderer aus Litauen, aus. Der studierte Elektro­ingenieur, der seit 1985 für die jüdische Kulturzeitschrift »Sovjetish Heymland« in Moskau, wohin er 1976 gezogen war, schrieb, ging 1991 nach England, wo er in Oxford promovierte, und 2002 weiter in die USA, wo er eine Professur für Jüdische Studien an der New York University antrat.

Bevor Estraikh in sein Thema, die Geschichte vom unerfüllten Traum einer jüdischen Republik in Birobidschan zu erzählen, einstieg, erinnerte auch er an die Kollegin Wiecki, deren liebenswürdiges »ponem« ausstrahlte: »hob mich lib«, was tatsächlich niemandem schwerfiel.

Der Referent, dessen Eltern selbst einmal mit dem Gedanken gespielt hatten, nach Birobidschan – Name einer Stadt, die zum Synonym für ein kleines autonomes Gebiet an der Grenze zu China wurde – zu gehen, erläuterte zunächst Stalins Vision. Demnach sollte jede Nation ein eigenes Territorium haben. Erst sollte dieses für Juden in Weißrussland liegen, dann auf der Krim und zuletzt am äußersten Ende der Sowjetunion, kaum bevölkert und bäuerlich.

1928 kamen die Ersten, im Zuge des Molotow-Ribbentrop-Pakts 1939 (der kaum zwei Jahre hielt), und danach kam ein weiterer Schub. Doch – solange dies noch erlaubt war – »is men gekumen un aweggefur‹n«, so unattraktiv war das Leben dort ohne Kultur, ohne Hochschulen, trotz russisch-jiddischer Straßenschilder und dem kläglichen Versuch, mithilfe jiddischsprachiger Kulturschaffender aus Kiew ein Birobidschaner Jiddisch zu etablieren. Laut Volkszählung von 1989 lebten schon damals weniger als 9000 Juden im Jüdischen Autonomen Gebiet, heute dürften es kaum mehr 1500 sein.

Gennady Estraikh: »The History of Birobidzhan. Building a Soviet Jewish Homeland in Siberia«. Bloomsbury Academic, London/New York 2023, 137 S., 11,69 € (Taschenbuch) bzw. 40,50 € (gebunden)

Buchvorstellung

Sprache, Fleiß und eine deutsche Geschichte

Mihail Groys sprach im Café »Nash« im Münchener Stadtmuseum über seine persönlichen Erfahrungen in der neuen Heimat

von Nora Niemann  20.10.2025

Chemnitz

Erinnerungen an Justin Sonder

Neben der Bronzeplastik für den Schoa-Überlebenden informiert nun eine Stele über das Leben des Zeitzeugen

 19.10.2025

Porträt der Woche

Leben mit allen Sinnen

Susanne Jakubowski war Architektin, liebt Tanz und die mediterrane Küche

von Brigitte Jähnigen  19.10.2025

Miteinander

Helfen aus Leidenschaft

Ein Ehrenamt kann glücklich machen – andere und einen selbst. Menschen, die sich freiwillig engagieren, erzählen, warum das so ist und was sie auf die Beine stellen

von Christine Schmitt  19.10.2025

Architektur

Wundervolles Mosaik

In seinem neuen Buch porträtiert Alex Jacobowitz 100 Synagogen in Deutschland. Ein Auszug

von Alex Jacobowitz  17.10.2025

Nova Exhibition

Re’im, 6 Uhr 29

Am 7. Oktober 2023 feierten junge Menschen das Leben. Dann überfielen Hamas-Terroristen das Festival im Süden Israels. Eine Ausstellung in Berlin-Tempelhof zeigt den Horror

von Sören Kittel  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Erinnerung

Gedenken an erste Deportationen aus Berlin am »Gleis 17«

Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, warnte mit Blick auf das Erstarken der AfD und wachsenden Antisemitismus vor einer brüchigen Erinnerungskultur

 16.10.2025

Bonn

Hunderte Menschen besuchen Laubhüttenfest

Der Vorsitzende der Synagogen-Gemeinde in Bonn, Jakov Barasch, forderte mehr Solidarität. Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hätten sich hierzulande immer mehr Jüdinnen und Juden aus Angst vor Übergriffen ins Private zurückgezogen

 13.10.2025