Erfurt

Der Titel ist geschafft

Es ist Sonntag, 16.04 Uhr, kurz vor dem Ende von Rosch Haschana. Noch feiern Jüdinnen und Juden das Neujahrsfest. In Erfurt wird zeitgleich der Livestream aus der saudi-arabischen Hauptstadt Riad in den Festsaal des Rathauses übertragen. Plötzlich brandet Jubel auf, denn Erfurts jüdisch-mittelalterliche Erbe wird in Riad angekündigt.

Rund 200 Gäste sind gekommen, um live zu erleben, ob Thüringens Landeshauptstadt damit tatsächlich geadelt und in die Welterbeliste aufgenommen wird. Nach dem Applaus ist es still. So still, dass man selbst eine Kippa herunterfallen hören könnte.

sektkorken Das bleibt fünf Minuten lang so. Bis in Riad feststeht: Erfurt hat es geschafft. Sektkorken knallen, und Reinhard Schramm als Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde sowie Oberbürgermeister Andreas Bausewein springen auf, schauen sich an und jubeln ebenso laut wie die anderen. Flugs wird ein Banner entrollt: »Jetzt Welterbe. Mazal tov.«

Hebräische Schriften und 100 Grabsteine kommen als ergänzende Zeugnisse hinzu.

Wenige Minuten nach der Verkündung stehen Maria Stürzebecher und Karin Sczech als die beiden UNESCO-Beauftragten der Stadt sowie Tobias Knoblich als Kulturbeigeordneter Erfurts vor der Kamera und sind im Erfurter Rathaus zu sehen. Den beiden Frauen schlägt fröhliches Lachen und riesiger Beifall entgegen, sie sehen erleichtert und abgekämpft aus. Alle sind sich einig: Ohne die beiden Wissenschaftlerinnen wären die jüdischen Schätze aus dem Mittelalter nie entdeckt und vor allem auch nicht weiter erforscht worden. Die Unterstützung des Landes und des Bundes war ihnen dabei gewiss.

Knapp 14 Jahre forschten und arbeiteten sie an der Alten Synagoge, an der Mikwe und an dem Steinernen Haus. Der Erfurter Schatz, die Hebräischen Schriften und die 100 Grabsteine sind ergänzende Zeugnisse jüdischen Lebens während des Mittelalters im Erfurter Zentrum.

einmaligkeit »Ich war mir nicht sicher, ob der Welterbetitel klappen wird«, sagt Reinhard Schramm im Anschluss an die Verkündung. Er hat gebangt. Ein jüdisches Erbe, aufgerufen in einem muslimischen Land? »Umso glücklicher bin ich nun. Es ist für die jüdische Gemeinde und für das Land ein großer Tag«, erklärt er. ICOMOS, der Internationale Denkmalsrat im Auftrag der UNESCO, hatte aufgrund der Einmaligkeit der Zeugnisse jüdisch-mittelalterlichen Lebens und des guten Bauzustandes der drei Gebäude die Empfehlung für die Aufnahme in die Welterbeliste ausgesprochen.

Martha Keil, Judaistin aus Österreich und Leiterin des dortigen jüdischen Ins­tituts, gehört zum internationalen Fachbeirat, der Erfurt für den UNESCO-Antrag beraten hat. Ihr Urteil war schon vor der Verleihung eindeutig: »Erfurt ist ein jüdisches Gesamtkulturwerk, so vieles ist dort noch erhalten. Die Kompaktheit der jüdischen Gemeinde im Mittelalter und das gemeinsame Leben von Christen und Juden lassen sich gut erfahren«, erklärt sie.

Und Professorin Sabine Schmolinsky vom Lehrstuhl Mittelalterliche Geschichte an der Universität Erfurt ergänzt: »Die Stufenarbeit in Erfurt erfolgte sehr sorgfältig und solide. Die beiden Wissenschaftlerinnen Maria Stürzebecher und Karin Sczech haben ein interdisziplinäres Feld entwickelt, das es in dieser Weise zuvor nicht gab.«

Stürzebecher und Sczech hatten zwar angespannt auf die Entscheidung in Riad geblickt, dennoch waren sie sich sicher, dass das jüdisch-mittelalterliche Erbe des Titels würdig ist. Maria Stürzebecher betont, dass ihr erster Gedanke war: »Geschafft. Dass unser jüdisch-mittelalterliches Erbe weltweit einmalig ist, wissen wir ja. Aber nun wird unsere jahrelange Arbeit mit dem Titel belohnt.« Und Karin Sczech ergänzt: »Der wirklich anstrengende Weg hat sich gelohnt. Ich bin erleichtert und glücklich.«

WELTERBEZENTRUM Nun also ist der Titel geschafft. Aber wie geht es weiter? Ganz ohne Frage auf eine Weise, die des Titels würdig ist. Selbstverständlich werde weiter geforscht. Und es wird Neues entstehen. So soll beispielsweise die Planung für ein Welterbezentrum direkt hinter dem Rathaus Gestalt annehmen. Dort befindet sich derzeit ein Parkplatz. Studierende der FH Erfurt und der Berliner Hochschule für Technik haben teils als Masterarbeit ein solches Welterbezentrum gewissermaßen auf dem Reißbrett entworfen, nicht wissend, ob Erfurt der Sprung auf die Welterbeliste gelingt.

Herausgekommen sind interessante Ideen, die zwischen dem großen Rathaus einerseits und der kleinteiligen Altstadt andererseits einen guten Platz bekommen können. Zudem wird dort auch die Synagoge der zweiten jüdischen Gemeinde ab Mitte des 14. Jahrhunderts vermutet. Stadt und Land haben bereits Hilfe für die nächsten Projekte zugesichert.

Selbstverständlich muss auch das Steinerne Haus weiter erforscht werden. Und es steht die Frage im Raum, wie Besucher dieses Haus künftig wirklich besichtigen können, ohne es zu gefährden.

SCHNITTMENGEN Auf wissenschaftlicher Ebene werden auch die SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz mit Erfurt weiter zusammenarbeiten und forschen. »Es gibt enorm viele Schnittmengen beispielsweise zwischen Erfurt und Mainz«, erklärt Werner Transier, Konservator aus Speyer, der die SchUM-Städte und Erfurt in einer Linie sieht. So unverständlich aus Sicht der Wissenschaftler der getrennte Weg auf die Welterbeliste war, hat die Stadt Erfurt den Titel nun auch für sich. Es ist der zweite Eintrag jüdisch-mittelalterlichen Erbes in die Welterbeliste.

Aufgrund des guten Bauzustandes der drei Gebäude gab es die Aufnahme-Empfehlung.

Und so erfreulich sich zunächst zum einen das Miteinander zwischen Juden und Christen im Mittelalter gestaltet hat, so schlimm endete es mit dem Pestpogrom. Auch diese Seite der Erfurter Geschichte muss weiterhin erforscht werden. Ähnliches gilt für die zweite jüdische Gemeinde, die lediglich bis Mitte des 15. Jahrhunderts existierte. Dann zog der Rat der Stadt den Schutz für Jüdinnen und Juden zurück, die Gemeinde löste sich auf.

Natürlich setzt Erfurt zukünftig auf mehr Tourismus und einen höheren Bekanntheitsgrad, als dies bislang der Fall war. Die ersten Anfragen sind bereits am Montag bei den Tourismuszentren eingegangen, um in Erfahrung zu bringen, welche Pläne es gebe, neue Angebote zu unterbreiten. Dies dürfte durchaus ein Spagat werden zwischen dem Wunsch der Öffentlichkeit einerseits und dem Schutz von Alter Synagoge und Mikwe andererseits. Ein Spagat, der den Erfurterinnen und Erfurtern aber sicherlich gelingen wird.

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