Dortmund

Der Rabbi und die Nazis

Nie waren Neonazis im Ruhrgebiet seit 1945 so präsent wie derzeit. Foto: dpa

Es gibt viel zu erklären, wenn Kinder älter werden. Bei Familie Apel werden aber Themen angesprochen, die es für die meisten Familien in Deutschland gar nicht gibt. Denn die Apels sind jüdisch – und leben in Dortmund. »Da fragt man sich manchmal: Gibt man den Kindern Feuer in die Hand und stellt gleich die Feuerwehr daneben oder nimmt man ihnen das Feuer besser weg?«, sagt Avichai Apel.

Der 34-Jährige ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund. Immer häufiger hört er von Mitgliedern, dass sie sich Sorgen um ihre Sicherheit oder die ihrer Kinder machen. Sie fragen sich, ob der Kindergarten nicht zusätzlich gesichert, die Gemeinde nicht stärker bewacht werden müsste. »Es wird in den letzten Jahren tatsächlich schlimmer«, betont der Rabbiner. »Als ich hier angefangen habe, bin ich zum Beispiel mit der Kippa einfach in die Nordstadt gegangen.«

Problemviertel Der Bezirk taucht regelmäßig in den Medien auf, wenn es um sogenannte Problemviertel geht. Der Ausländeranteil ist hoch, rund 25 Prozent der Menschen sind arbeitslos; dass es soziale Probleme gibt, ist offensichtlich. »Zwei, drei Straßen weiter, dann ist man schon da. Wir kaufen oft dort ein«, sagt Apel. »Aber wenn man mit Kippa unterwegs ist, muss man damit rechnen, dass es zu Vorwürfen kommt – und vielleicht auch zu mehr.« Ja, vonseiten der Muslime, erzählt Apel. Die meisten seien nett, aber »eine verrückte Person reicht schon«.

In einem anderen Stadtteil, in Dorstfeld, ist die Situation nicht anders. Auch hier fühlt sich Rabbiner Apel unsicher, wenn er mit seiner Kippa durch die Straßen geht. Sogar, wenn er im Auto fährt. »Da ist das Problem mit den Neonazis. Wenn man keine Kippa trägt, keinen Magen David, nicht Hebräisch spricht, muss man sich keine Gedanken machen«, betont er.

»Wenn wir mit den Kindern dort sind, sagen wir schon, dass sie besser eine Kappe überziehen.« Sollten die Kinder alt genug sein, kommen in solchen Momenten dann die Fragen. Bei einem seiner Söhne sei es schon mit sechs Jahren so weit gewesen, beim anderen mit neun. »Der eine hat sich länger mit Drachen und Power Rangers befasst, der andere früh viel über die Schoa und Antisemitismus gelesen«, berichtet Apel.

Auch wenn die Söhne allein unterwegs sind, tragen sie häufig eine Kippa. Einer musste aus einem Kino flüchten, nachdem ihn Jugendliche als Juden erkannt und bedrängt hatten. Auf dem Spielplatz wurde ein Sohn beschimpft und ihm die Kippa vom Kopf gerissen. »Das ist leider die Normalität«, stellt Apel fest.

Beratungsstellen Über Jahre ist Dortmund wegen seiner Neonazi-Problematik in den Medien. Seit 2000 wurden hier fünf Menschen von Rechtsextremen getötet, einer von ihnen wurde Opfer des terroristischen NSU. Lange habe man den Neonazis zu viel Raum gelassen, kritisieren viele Stadt und Polizei. Tatsächlich führen die den Kampf gegen rechte Strukturen nun aktiver: Es gibt Wohnungsdurchsuchungen, Demonstrationsverbote für Neonazis und Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt.

Eine von ihnen ist »back up«. Die Zahl der Neonazis sei seit Jahren nicht gestiegen, schreiben deren Mitarbeiter in einem Bericht. Im Frühjahr schätzte ein Sozialwissenschaftler, dass es rund 100 aktive Rechtsextreme in Dortmund gibt – zusammengesetzt aus Mitgliedern des inzwischen verbotenen Nationalen Widerstands, der Autonomen Nationalisten und rechten Skinheads.

Aktionismus Doch diese Szene konnte sich, so vermutet man bei »back up«, in den vergangenen Jahren professionalisieren. Die Wut habe man in dauerhaften Aktionismus umgewandelt. »Der folgt einer Agenda, ähnlich einem Veranstaltungskalender, die das gesellschaftliche Leben in Dortmund dauerhaft stört«, sagt ein Sprecher der Beratungsstelle. Einen solchen Kalendereintrag gibt es wohl auch für den 9. November.

Drei Jahre hintereinander störten Rechte Gedenkveranstaltungen an die Pogromnacht. Mit Zwischenrufen habe es begonnen, im folgenden Jahr klingelten immer wieder laute Wecker in einem Gebüsch. »Beim dritten Mal war es noch schlimmer«, erinnert Rabbiner Apel. »Zwei Böller explodierten. Die Menschen dachten, jemand würde schießen.« Zuletzt sicherte die Polizei das Gelände frühzeitig und hielt potenzielle Störer fern.

Die Atmosphäre in Dortmund sei auch abhängig von der Situation im Nahen Osten, sagt der Rabbiner. Das habe man zum Beispiel bei der »Gaza-Flottille« bemerkt. Oder bei Aktionen des israelischen Militärs im Gazastreifen. Dann schließen die Apels ihre Tür doppelt ab und sagen den Kindern, sie sollen auf dem Schulweg besser aufpassen. Bloß nicht in Gespräche verwickeln lassen, lieber weggehen. Die Kinder sollten kein Risiko eingehen, sondern so etwas lieber den Erwachsenen überlassen.

Zum Beispiel ihrem Vater. Der weiß um die Gefahr, sich als Jude zu outen. »Aber es ist meine Religion. Ich mache das nicht, um zu provozieren.« Doch manchmal greift Apel auch zu einer normalen Kappe, um nicht als Jude erkannt zu werden: im Bahnhof etwa, wenn die Menschenmenge zu groß ist. »Vielleicht ist das falsch«, überlegt er laut. »Ich sehe nicht ein, dass ich wegen des Willens anderer Menschen meine Identität verstecke«, sagt er dann überzeugt. »Wie sollen denn Kinder mit Kippa oder Davidstern in die Schule gehen, wenn sie wissen, dass der Rabbiner selbst es aus Angst nicht macht? Man sollte keine Angst haben!«

Mut Obwohl sich die Situation in den letzten Jahren verschlimmert habe, gebe es auch Entwicklungen, die ihm Mut machten, sagt Apel. Der neue Polizeipräsident gehe härter gegen Neonazis vor; der Oberbürgermeister äußere sich häufiger, manchmal auch zum Antisemitismus unter Muslimen; zu vielen Moscheegemeinden gebe es gute Kontakte.

Freudig erzählt Apel von einem Fußballturnier mit jüdischen, muslimischen und christlichen Mannschaften. Aber dann kommen wieder diese Rückschläge im Alltag: So muss der Rabbiner häufig überlegen, welches Gemeindemitglied er nicht mit einer Kippa auf dem Kopf besuchen kann, weil man dort Angst vor den Reaktionen der Nachbarn hat.

Sogar in den eigenen vier Wänden kann er diese Gedanken nicht abschalten. »Wir haben hier einen Supermarkt, drüben in der Nordstadt. Der hat bis Mitternacht geöffnet. Wenn ich nach 22 Uhr dorthin will, lässt mich meine Frau nicht. Sie geht dann.« Der Rabbiner bleibt mit seiner Kippa auf dem Kopf zu Hause.

Geht er doch mal mit seiner Frau in die Stadt, weist sie ihn auf die Blicke der Passanten hin, die sie sonst nicht beachten. »Sie ist es nicht gewohnt, angestarrt zu werden, das passiert nicht, wenn sie allein unterwegs ist«, sagt Avichai Apel. Manche seien sicher nur neugierig und hätten keine böse Absicht – »aber man spürt auch schnell, wenn es anders ist«.

Ratschläge Wenn der Rabbiner mit nichtjüdischen Freunden spricht, raten sie ihm häufig dazu, mutig zu sein. Zum Beispiel in der Frage, ob man an der Fassade des Gemeindezentrums oder davor jüdische Symbole anbringen soll. In der Gemeinde hingegen würden das viele nicht als Mut, sondern als Leichtsinn bezeichnen.

Auch Avichai Apel, der dazu aufruft, keine Angst zu haben, wägt ab. »Mit meinem Leben kann ich spielen, mit dem von anderen darf ich das nicht.« Man könne nicht jedem Juden in Dortmund einen Bodyguard an die Seite stellen, aber auch nicht die ganze Gesellschaft verändern. Da ist wieder die Überlegung zum Feuer und zur Feuerwehr. »Es wird irgendwann besser sein. Aber ich gl … – ich weiß nicht genau.« Wollte er »ich glaube nicht« sagen? Er überlegt lange. »Ich weiß es nicht. Ich bin Optimist.«

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