Berlin

Der Fälscher

Es gibt Momente, die Jack Plapler in seiner Erinnerung herübergerettet hat. Die nicht verschluckt wurden von jahrelanger Todesangst in jenem Gefängnis, das mein Großvater Bernhard Krüger für ihn und die anderen Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen geschaffen hatte. Sechs Jahre KZ kann niemand unbeschadet überstehen.

Jack Plapler hat überlebt, und er hat, so unwahrscheinlich das klingt, einige wenige schöne Momente selbst aus dieser Zeit in seinem Herzen bewahrt. Zum Beispiel den, als er auf der »teuersten Bühne der Welt« stand. So nannte er augenzwinkernd die aufgestapelten Kisten mit Falschgeld, auf die er an manchen Abenden kletterte. Das war in der Fälscherwerkstatt im KZ Sachsenhausen, in der er von 1942 bis 1945 unter Zwang britische Pfund und andere Währungen herstellte.

Er sang damals für die SS-Leute, die in der ersten Reihe saßen, und für die anderen Insassen vom Block 19 ein Operettenlied von Franz Lehár. Es handelt von einem Soldaten, der im Schützengraben sitzt und Heimweh hat. Plapler stimmte dieses Lied mit dem pathetischen Text auch für mich an, die Enkelin eines jener SS-Männer, die damals in der ersten Reihe saßen. Wie er es schaffte, solche Momente für sich zu bewahren, habe ich mich oft gefragt.

Begegnung An einem warmen Tag im Sommer 2009 bin ich Jack Plapler zum ersten Mal begegnet. Er hatte mich und meine Schwester nach einer Gedenkveranstaltung zum Kaffeetrinken zu sich nach Hause eingeladen. Damals stand er in seinem Vorgarten und wartete auf uns. Seine schlohweißen Haare leuchteten in der Sonne. Er schaute in unsere Richtung – ein Greis mit großen runden Augen und wachem Blick. Ich war aufgeregt und hatte auch ein wenig Angst, als ich aus dem Bus stieg. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich dem alten Herrn näherte, wurde ich unsicherer. Was erwartete mich?

Das Einzige, was mich mit dem Mann verband, war ein Verbrechen, das den Namen meines Großvaters trug. »Unternehmen Bernhard« hieß die geheime Falschgeldfabrik der Nazis, in der Jack Plapler von 1942 bis 1945 arbeiten musste. Was für ein Recht hatte ich überhaupt, ihn aufzusuchen? Wie begegnet man als Enkelin eines Nazis einem ehemaligen jüdischen Häftling?

Wortkette Bevor wir die Haustür erreichten, drehte er sich um, deutete auf die umstehenden Häuser und sagte: »Früher haben hier SS-Leute gewohnt. Tja, so ändern sich die Zeiten.« Halb verschämt, halb irritiert stimmten wir zu und folgten ihm in den Flur. Der Tisch war bereits gedeckt, als wir das Wohnzimmer betraten. Auf einer weißen gebügelten Decke stand feines Geschirr. Isaak Plapler bat uns, Platz zu nehmen. Er ging in die Küche, kehrte mit einer Porzellankanne voll Filterkaffee zurück und stellte sie auf ein Stövchen. Danach stützte er sich mit den Händen auf die Stuhllehne, prüfte, ob alles an seinem Platz war, nickte, setzte sich und begann zu erzählen.

Er berichtete routiniert. Schon viele Male waren Filmteams bei ihm gewesen, hatten sein Wohnzimmer umgeräumt und ihre Kameras aufgestellt. Auch wir sollten seine Geschichte noch oft hören, denn diesem ersten Besuch folgten viele weitere. Es gab die Stellen, an denen er die immer gleichen Sätze hervorholte, als hätte er die Erinnerungen über die Jahre in einer Wortkette konserviert, an der er sich entlanghangelte. Es gab aber auch jene Momente, in denen Isaak Plapler, sogar über 70 Jahre später, das nächste Wort einfach nicht zu fassen bekam. Dann schaute er auf, schwieg einen Augenblick und setzte an einer anderen Stelle erneut an.

Gesang Isaak Plapler sang gern und oft. Unvergesslich ist für mich der Moment, wie er einmal für meine Schwester und mich dieses Lied aus der Fälscherwerkstatt anstimmte, mit seiner immer noch vollen Stimme, und wie ich zwischen Scham, Bestürzung und Rührung schwankte, als ich es hörte. Jack Plapler stellte solche Situationen her – verstörend, tieftraurig und doch tröstlich. Auf einer Bühne zu stehen und zu singen, war immer sein Traum gewesen. Nach der Volksschule in Kassel, als er auf das Musikkonservatorium hätte gehen wollen, hing dort bereits ein Schild an der Tür mit der Aufschrift: »Für Juden und Hunde Zutritt verboten«. So wurde er mangels Alternative Malerlehrling bei den Gebrüdern Hallo in Kassel.

Im September 1939 stand die SS bei den Plaplers vor der Tür. Vater Herschel und Sohn Isaak, genannt Jack, wurden abgeholt und nach Buchenwald gebracht. Am 7. März 1940 musste Jack mit ansehen, wie sein Vater durch Schläge von SS-Knüppeln schwer verletzt wurde und starb. Seine Mutter Eda und seine Schwester Mary wurden 1942 in Riga ermordet, sein kleiner Bruder Benno starb im selben Jahr im KZ Stutthof. Als Jack Plapler 23 Jahre alt war, hatte er bereits beide Eltern und zwei Geschwister verloren.

Fälscherwerkstatt Im August 1942 holte Bernhard Krüger ihn in die Fälscherwerkstatt. Einen Maler konnte mein Großvater gut für die präzisen Arbeiten in der Geldfabrik gebrauchen. So gehörte Jack Plapler zu den ersten 39 Fälschern im Block 19. Er überlebte zusammen mit 139 weiteren Häftlingen das »Unternehmen Bernhard« und wurde am 6. Mai 1945 von US-Soldaten aus dem KZ Ebensee befreit.

Jack Plapler erzählte immer von seinen Erlebnissen in den Konzentrationslagern, wenn ich bei ihm war. Aber es verging auch kein Besuch, bei dem er nicht erzählte, wie er nach dem Krieg in Halle, wo er einige Jahre lebte und das Malereigeschäft »Blickfang« eröffnete, seine Frau Gerdie kennenlernte. Der Schokoladenhändler Ulrich Spengler hatte ihn eingeladen, und auch dort sang Jack ein Lied, ich glaube, nur für Gerdie: »Ich hab die Frage mir gestellt, was mir an dir so sehr gefällt.«

Mit Gerdie fuhr er eines Tages nach Kassel, um herauszufinden, was aus seinen Geschwistern und seiner Mutter geworden war. Er hinterlegte eine Nachricht beim Bürgermeister und erfuhr, dass eine Schwester und ein Bruder noch lebten.

Neuanfang Ende der 40er-Jahre stiegen Jack Plapler, Gerdie und die Kinder Renate und Manfred in ihren »Triumph Adler« und fuhren nach West-Berlin. Jack fing noch einmal von vorne an, eröffnete ein Malereigeschäft in der Anzengruberstraße in Neukölln und bezog sein Haus in Steglitz, wo er bis zu seinem Tod am vergangenen Donnerstag lebte. Bemerkenswert ist, dass Jack Plapler trotz seiner Lebensgeschichte in Deutschland blieb. Dafür wurde er 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.

Auch meiner Familie kehrte er nicht den Rücken zu, im Gegenteil – er wandte sich uns zu. In den letzten sechs Jahren habe ich ihn oft besucht. Er war der einzige Zeitzeuge, der mir noch über die Fälscherwerkstatt berichten konnte. Ich bin dankbar für diese Begegnung, die Jack Plapler zugelassen hat. Er hätte so viele Gründe gehabt, mich abzuweisen, und doch hat er mir eine Chance gegeben, ihm zu begegnen und mich so meiner eigenen Familiengeschichte zu stellen. Ohne seine Ehrlichkeit wäre das nicht möglich gewesen. »Sie haben das ja alles nicht erlebt«, bemerkte er einmal mitten im Gespräch zu mir. »Sonst wären Sie ja damals auch beim BDM gewesen.« Das war weder Angriff noch Zynismus, nur eine Feststellung.

Aber es war nicht nur seine Ehrlichkeit, die meine unwahrscheinliche Freundschaft zu Jack Plapler ermöglicht hat. Es war vor allem eines: sein großes Herz.

Die Autorin ist die Enkelin des SS-Mannes Bernhard Krüger, Namensgeber der »Operation Bernhard«.

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