Projekt

Aus anderer Perspektive

Berlin – Paris – Perpignan: Berliner Abiturienten sind durch Europa gereist und haben Geschichte hautnah erlebt, so wie hier im fanzösischen Drancy. Foto: GHWK

Ahmet Güldal ist noch etwas verwundert: »Na klar, in der Schule wird immer viel über den Holocaust geredet, aber die Geschichte der Verfolgung war mir vorher nicht so bewusst«, sagt der 18-jährige Schüler nach der Filmpräsentation in der Moabiter Heinrich-von-Kleist-Schule. Ahmet ist einer von 18 Berliner Gymnasiasten, die auf den Spuren jüdischer Emigranten von Deutschland über Frankreich nach Nordspanien reisten. Was sie während dieser Fahrt erlebt und wie sie die unterschiedlichen Begegnungen wahrgenommen haben, hat der 18-jährige Schüler und Hobbyfilmer Tom Knoll vom Schiller-Gymnasium dokumentiert. In diesem Pilotprojekt, das vom Haus der Wannsee-Konferenz initiiert wurde, sollten die Jugendlichen »Multiplikatoren der Geschichte« werden.

Man wolle den Schülern Geschichte aus einer ungewohnten Perspektive näherbringen. Zehn Tage waren sie unterwegs und besuchten unter anderem das Mémorial de la Shoah in Paris. Weitere Stationen waren das Transitlager Drancy, Marseille oder die Gedenkstätte Rivesaltes in Perpignan. Ein zentrales Erlebnis auf der zehntägigen Reise in den Südwesten Europas war die mehrstündige Wanderung auf dem Pyrenäen-Fluchtweg des Philosophen Walter Benjamin, der 1940 von seinem Pariser Exil nach Spanien flüchten musste.

Die eigene physische Erfahrung habe den Schülern die schiere Verzweiflung des jüdischen Intellektuellen nähergebracht. »Unvorstellbar, diesen Weg mit Gepäck im Winter zu gehen«, beschreiben die Jugendlichen ihr Gefühl. Die ausweglose Verzweiflung »wie die eines in die Enge getriebenen Tieres« hat die meisten von ihnen nachhaltig beeindruckt.

Gesellschaft Allerdings hat sich die Gruppe nicht nur mit jüdischen Emigranten beschäftigt. »Es sollte keine Reise durch die Tagebücher Walter Benjamins werden«, erklärt Elke Gryglewski, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Aya Tzarfati dieses Projekt betreute. Beide wollten mit ihrer Arbeit versuchen, Geschichten miteinander zu verweben.

In Frankreich verbanden sie die jüdischer Emigranten mit der Geschichte algerischer Immigranten. Die tragischen Begebenheiten in einer Entbindungsstation zu Zeiten der deutschen Besatzung wurde den Schülern zum Sinnbild für Zivilcourage. Mit dieser historischen Verschränkung wollten die Initiatoren die unterschiedlichen persönlichen und kulturellen Hintergründe der Schüler berücksichtigen.

Wie können moderne Gesellschaften ein Gefühl für Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit erzeugen? Das sei eine der großen Fragen, die man sich nicht nur im Schulsenat stelle, sagte Reinhold Reitschuster, Oberschulrat in der Senatsverwaltung. Eine Mutter, deren Kind an der Exkursion teilnahm, brachte diese Herausforderung so auf den Punkt: »Integration und Exklusion im historischen Kontext«.

Hertha BSC Die 18 Jugendlichen sind keineswegs alle Hobbyhistoriker. Und schon der Anfang des Dokumentarfilms macht deutlich, dass es sich um eine Schülerreise und nicht um eine reumütige Pilgerfahrt handelt. Denn nicht alle großen Fragen können von Walter Benjamin und Hannah Arendt beantwortet werden. Manche Dinge werden bei Jugendlichen eben zwischen Hertha Berlin und Besiktas Istanbul entschieden.

Auch wenn bei den persönlichen Vorstellungen der Schüler deutliche Unterschiede zu erkennen sind, am Ende kommen alle zu ähnlichen Ergebnissen. Zwar sagt der türkischstämmige Cihad, als einziges Gruppenmitglied, er fühle sich »nicht als Deutscher«. Dennoch sieht auch er eine historische Verantwortung, unabhängig von seiner Herkunft.

Weder der Holocaust noch das Phänomen der Vertreibungen sei nur den Deutschen oder Deutschland vorbehalten. Sein Kollege Lenny Geomor, dessen Eltern aus Ghana kommen, fasst es so zusammen: »Als Mensch, egal woher man kommt, trägt man immer Verantwortung.« Was hinter diesem Konsens steckt, kann Elke Gryglewski nur vermuten. Denn eines hat sich auf dieser Reise gezeigt. Weder Interesse noch Betroffenheit sind abhängig von der Herkunft. Für alle Schüler, da ist sich Begleiterin Aya Tzarfati sicher, war es eine beeindruckende Erfahrung, deren ganze Wirkung man jetzt noch gar nicht erfassen könne.

Kongress

Neue Bündnisse finden

Auch feministische Kreise schlossen jüdische Frauen nach dem 7. Oktober aus. Auf dem Jewish Women* Empowerment Summit soll das thematisiert werden. Ein Essay der Keynote-Speakerin

von Merle Stöver  03.09.2025

Darmstadt

Jüdische Kulturwochen: Großer Andrang bei Eröffnung

Das Programm schließt den Extremismusforscher Ahmad Mansour mit ein

von Imanuel Marcus  03.09.2025

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  02.09.2025

Universität

Starke junge Stimme

Seit dem 7. Oktober 2023 versucht der Verband Jüdischer Studenten in Bayern, mit seinen Aktivitäten vor allem auf dem Campus einen Weg zurück zur Normalität zu finden

von Luis Gruhler  02.09.2025

Hilfe

»Licht in den Alltag bringen«

Naomi Birnbach über den Berliner Mitzwa Express, der mit Kindern arbeitet und den vom Terror schwer getroffenen Kibbuz Kfar Aza unterstützt

von Christine Schmitt  02.09.2025

Unterstützung

38.000 jüdische Kontingentflüchtlinge erhielten Rentenausgleich

Nach Angaben der Stiftung Härtefallfonds des Bundes wurden insgesamt 169.000 Anträge geprüft

 01.09.2025

München

Volk des Buches

Zum Europäischen Tag der jüdischen Kultur

von Nora Niemann  01.09.2025

Meinung

Schlechte Zeiten für Frankfurts Juden

Durch die Radikalisierung der israelfeindlichen Szene ist die jüdische Gemeinschaft der Mainmetropole zunehmend verunsichert. In der Stadtgesellschaft interessiert das jedoch nur wenige

von Eugen El  01.09.2025

Vor 80 Jahren

Neuanfang nach der Schoa: Erster Gottesdienst in Frankfurts Westendsynagoge

1945 feierten Überlebende und US-Soldaten den ersten Gottesdienst in der Westendsynagoge nach der Schoa

von Leticia Witte  01.09.2025