Porträt der Woche

Auf der Bühne des Lebens

»In meiner Heimat konnte ich mich nicht verwirklichen«: Elena Prokhorova (73) aus Berlin Foto: Jan Feldmann

Porträt der Woche

Auf der Bühne des Lebens

Elena Prokhorova war Lehrerin und findet ihr Glück im Theaterspielen

von Christine Schmitt  05.10.2025 10:51 Uhr

Meine Mutter sitzt weinend vor dem Radio: Stalin ist gestorben. Das war 1953 – eine meiner ersten Kindheitserinnerungen. Ein paar Tage zuvor hatte sie ihre Arbeit als Englischlehrerin verloren, und kurz vorher wurde die sogenannte Ärzteverschwörung aufgedeckt, ein von Stalin und seinen Gefolgsleuten erfundenes Komplott von Medizinern vor allem jüdischer Herkunft, die angeblich die Spitze der damaligen Sowjetunion ausschalten wollten.

Die »Enttarnung« führte zu zahlreichen Verhaftungen und Hinrichtungen. Dennoch waren die Tränen meiner Mutter ehrlich, denn sie war überzeugte Kommunistin. Als Englischlehrerin bekam sie nun keine Anstellung mehr. Mein Vater war Künstler und fand nur gelegentlich bezahlte Arbeit. Es war schwer, unsere kleine Familie durchzubringen.

Als Kind fragte ich einmal, ob auch unsere Katze jüdisch sei. In meiner Familie waren alle jüdisch, nur mein Vater nicht – und die Katze. Ich wuchs im damaligen Leningrad auf. In einer Wohnung in einer Siedlung aus sechs großen Wohnblöcken, darin lebten vor allem Leute, die aus den Dörfern der Umgebung hergezogen waren, um in den Fabriken zu arbeiten.

Meine Familie gehörte zur sogenannten Intelligenzija

Meine Eltern wollten nicht, dass ich mit den anderen Kindern spiele, denn sie redeten in der sogenannten Gulag-Sprache, deren Heftigkeit und Derbheit mit keiner anderen Sprache zu vergleichen ist. Meine Familie gehörte hingegen zur sogenannten Intelligenzija. Mit meiner Oma und meiner Tante lebten meine Eltern und ich in einem 16 Quadratmeter großen Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung, in der noch zwei weitere Familien untergebracht waren. Ohne Dusche, ohne Bad.

Als kleines Mädchen begleitete ich meine Oma oft ins »Magasin«, den Supermarkt. Der erinnerte vom Bau her an ein Museum oder an eine Konzerthalle, denn es gab einen sekundenlangen Hall. Mit etwa zwei Jahren stellte ich mich in die Mitte des Supermarktes, um Gedichte vorzutragen, die ich auswendig kannte.

Ich konnte mir schon damals Texte und vor allem Gedichte gut merken, soll über eine gute Aussprache und eine helle Stimme verfügt haben. Viele Leute blieben stehen, um mir zuzuhören. An der Kasse wurden meine Oma und ich bevorzugt behandelt, mitunter bekamen wir auch etwas geschenkt. Man kannte uns schon. Über Jahre ging das so. Vor allem Texte von russischen Dichtern, satirische Gedichte und alles, was damals populär war, rezitierte ich.

Als Kind fragte ich einmal, ob auch unsere Katze jüdisch sei.

Ich war ein Einzelkind. Bei uns in der Familie wurde viel gelesen, auch verbotene Autoren. Meine Eltern nahmen mich mit in Ausstellungen, zu Museumsbesuchen und ins Theater. Durch die Vorstellungen wurde meine Leidenschaft für die Bühne vollends geweckt. Ich wollte selbst darauf stehen und fing an, bei Inszenierungen in Klubs und in der Schule mitzumachen. Überall durfte ich die Hauptrolle spielen. An Wettbewerben nahm ich teil und erhielt für mein darstellerisches Spiel sogar Preise. Natürlich wollte ich nach der Schule Schauspiel studieren.

Ich bewarb mich und wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Doch da wurde mir mitgeteilt, dass ich zu klein und zu zierlich sei. Helden des Prototyps waren erwünscht. Aber ich war vom Äußeren her weder eine Heldin noch eine Fabrikarbeiterin. Dennoch konnte ich Schauspiel an der Universität studieren und trat in zahlreichen Theaterproduktionen auf. Gleichzeitig studierte ich Sprachen und russische Literatur. Nach der Uni arbeitete ich als Lehrerin, wie meine Mutter. Sie ist leider früh gestorben, sie wurde nur 42 Jahre alt. Als sie starb, war ich zehn. Glücklicherweise lernte mein Vater dann meine zukünftige Stiefmutter kennen.

»Schule der Zukunft«

Jahre später begegnete ich meinem ersten Mann in unserem Freundeskreis. Bald heirateten wir, und ich wurde schwanger. Als unser erster Sohn drei oder vier Jahre alt war, erfuhr ich von einer besonderen Schule, an der ich sehr gern arbeiten wollte. Die experimentelle Schule, die sich weit weg von Leningrad in der heutigen Ukrai­ne befand, lockte mich. Sie versprach, die »Schule der Zukunft« zu werden.

Den Kindern sollte viel Freiheit gelassen werden, sie sollten sich selbst die Fächer aussuchen, und gleichzeitig gab es mehrere inhaltliche Schwerpunkte, die eine Grundlage für spätere Berufe bilden konnten. Ich zog also dorthin. Meinen Sohn nahm ich mit, mein Mann hingegen blieb in Leningrad, besuchte uns aber regelmäßig. Doch als unser zweiter Sohn geboren wurde, wollte ich wieder zurück nach Leningrad.

In dieser Zeit begann die Perestroika. Es war mein Wunsch, das Know-how, das ich an der experimentellen Schule erworben hatte, weiterzugeben. So fing ich wieder als Lehrerin an.

Die 90er-Jahre waren in der damaligen Sowjetunion eine schwere Zeit

Als mein älterer Sohn eingeschult wurde, gründete ich ein Theater für Kinder. Wir haben alles selbst gemacht, das Bühnenbild angefertigt, musiziert, Pantomime gelernt und an Aussprache und Betonung gefeilt.
Die 90er-Jahre waren in der damaligen Sowjetunion eine schwere Zeit. Für mich besonders, da ich nur noch einen »kleineren« Job hatte, bei dem ich Abiturienten in Geisteswissenschaften für die Uni vorbereitete. Dreimal in der Woche unterrichtete ich sie. Ich hatte nicht viel Geld.

Da mein Vater krank war, wollte ich mich um ihn kümmern und auch meine Stiefmutter unterstützen. Aber meine Söhne brauchten mich ja auch. Ich hatte viel um die Ohren. In dieser Zeit lebten mein Mann und ich uns auseinander. Später lernte ich meinen zweiten Mann kennen, einen Künstler, der vor allem Bühnenbilder anfertigte. Nach fünf Jahren trennten sich unsere Wege wieder. Als mein ältester Sohn volljährig wurde, bekam ich Angst um ihn. Russland hatte Tschetschenien den Krieg erklärt, und ich wollte nicht, dass er eingezogen wird. Auch deshalb stellte ich einen Antrag auf Ausreise nach Deutschland. So kam es, dass wir zu dritt nach Bad Pyrmont ziehen konnten. Ich atmete auf und erholte mich von den schweren Jahren davor.

In Deutschland spürte ich, dass ich wieder kreativ werden musste. Ich war erfreut, dass es um mich herum so viele Jüdinnen und Juden gab. Etliche Kulturveranstaltungen wurden angeboten, und dank ihnen entdeckte ich die Jüdische Gemeinde und entwickelte mein Interesse fürs Judentum. Schließlich wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, Vorsitzende der Gemeinde zu werden. Ich zögerte nicht lang, sondern sagte bald zu.

Mein stärkstes Erlebnis in diesen zwei Jahren war die Wiedereinbringung der Torarolle. Sie war 1936 vor den Nazis gerettet worden und nach Südamerika gelangt. Aus Brasilien kam sie nun wieder zu uns zurück. Ich habe auch ein Kindertheater gegründet. Mit den Mädchen und Jungen habe ich beispielsweise Geschichten aus der Tora aufgeführt. Mein ältester Sohn beschäftigte sich immer mehr mit dem Judentum und ging nach Berlin, um bei Lauder zu studieren.

Vor allem die Theaterproben liebe ich sehr.

Als mein jüngster Sohn nach dem Abitur nach Passau zog, um dort ein Jurastudium aufzunehmen, mochte ich nicht mehr in Bad Pyrmont bleiben. Und als dann auch gute Freunde nach Berlin wechselten, ließ ich mich überreden, mitzukommen. Seitdem lebe ich in Reinickendorf. Bis zu meiner Rente konnte ich noch jobben und etwas Geld verdienen.

In Berlin kann ich mich verwirklichen

In Berlin kann ich mich verwirklichen, seit fast zehn Jahren engagiere ich mich beim Projekt »Impuls«. Derzeit bin ich dort Volontärin. Vor allem die Theaterproben liebe ich. Anfang November werde ich mit dem Stück Der Golem. Eine Legende. Nach Motiven einer Novelle von Isaac Bashevis Singer auf der Bühne in der Fasanenstraße stehen – und zwar als Moderatorin und Statistin. Wir sprechen auf der Bühne zwar Russisch, aber es gibt deutsche Untertitel. Mehrmals die Woche proben wir. Glücklicherweise, denn ich genieße die Zeit immer sehr.

Was ich auch sehr genieße, ist, am Morgen erst einmal Kaffee zu trinken, das mag ich. Ziemlich früh schaue ich auf mein Handy und lese Nachrichten über Israel, Russland, die Ukrai­ne und Deutschland.
Auch interessiere ich mich für Dokumentarfilme über alles Mögliche. Und ich mag moderne Filme. Tagsüber bin ich unterwegs, besuche Ausstellungen und treffe mich mit Freunden oder telefoniere mit ihnen.

Aus Leningrad habe ich damals nur ein paar kleinere Kunstwerke von meinem Vater mitgebracht, die in den Koffer passten. Und Familienfotos. In meiner Heimat konnte ich mich nicht verwirklichen. Ich konnte als Lehrerin arbeiten und Geld verdienen, aber mein Herz schlägt fürs Theater. In Berlin bin ich sehr glücklich und dem Schicksal sehr dankbar, dass ich hier leben darf. Dadurch hat mein Leben eine neue Qualität bekommen.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

Solidarität

»Die Welt ist seit dem 7. Oktober eine andere«

Das Bündnis »DACH gegen Hass« plant zwei Jahre nach dem Massaker eine große Kundgebung in München

von Luis Gruhler  04.10.2025

Deutschland

Nobelpreisträgerin Herta Müller warnt vor grassierendem Hass auf Juden

Die Schriftstellerin setzt sich für Menschenrechte und gegen Antisemitismus ein. Ausschreitungen an deutschen Unis sieht sie auch als Ergebnis von Dummheit. Und warnt vor der Gefahr durch Islamisten

 04.10.2025

Sukkot

Markttag vor dem Fest

Mit einem Familiennachmittag bereitet sich die Synagoge Brunnenstraße auf die Feiertage vor

von Sören Kittel  03.10.2025

Einweihung

Ein Ort des Miteinanders

Stuttgart feiert den neuen Synagogenvorplatz

von Brigitte Jähnigen  03.10.2025

Baden-Baden

»Makkabi Sport Day«: Judenhasser schubsen Rabbiner, verängstigen Kinder

Sportler kommen von Sportplätzen zum Event und rufen »Free Palestine«. Sie bezeichnen die Anwesenden als »Kindermörder«

 02.10.2025 Aktualisiert

Berlin

Bundesregierung und israelische Botschaft schicken gute Wünsche zu Jom Kippur

»Jüdisches Leben und jüdische Kultur gehören seit jeher zu unserem Land – gestern, heute und morgen«, so die Regierung in dem Feiertagsgruß

 01.10.2025

Terror

»Das Einfühlungsvermögen für Juden ist aufgebraucht«

Die Berliner Psychologin Marina Chernivsky zieht eine bittere Bilanz nach dem 7. Oktober

von Franziska Hein  30.09.2025

DP-Camp Föhrenwald

Geboren im »Wartesaal«: Das Leben nach dem Überleben der Schoa

Wer das Morden der Nazis überlebt hatte, wusste oft nicht, wohin. Hunderttausende Juden kamen zunächst in Camps für »Displaced Persons« unter. Fiszel Ajnwojner wurde dort geboren

von Leticia Witte  30.09.2025

Erfurt

Hinweise auf antisemitisches Motiv nach Attacke

Der weiterhin flüchtige Täter habe dem jungen Mann nicht nur seine Halskette mit Davidstern geraubt, sondern ihn auch als Juden beschimpft

 30.09.2025