Talmudisches

Wie Schilf und nicht wie eine Zeder

Rabbi Elasar lehrte: »Weil das Schilf geschmeidig ist, verdiente es, dass daraus ein Stift für das Schreiben von Torarollen, Tefillin und Mesusot gemacht werden sollte«. Foto: Getty Images/iStockphoto

Talmudisches

Wie Schilf und nicht wie eine Zeder

Wie sich Rabbi Elasar gegen einen hässlichen Mann versündigte

von Rabbiner Avraham Radbil  22.10.2021 08:31 Uhr

Der Talmud erzählt im Traktat Taanit (20ab), wie Rabbi Elasar auf seinem Esel am Flussufer entlangritt und sich glücklich und stolz fühlte, weil er so viel Tora gelernt hatte. Da kam zufällig ein überaus hässlicher Mann auf ihn zu und grüßte ihn mit den Worten: »Friede sei mit dir, mein Lehrer!«

Rabbi Elasar erwiderte den Gruß nicht, sondern antwortete: »Du Leerer! Wie hässlich ist dieser Mann! Sind alle Menschen in deiner Stadt so hässlich?« Der Mann antwortete: »Ich weiß es nicht. Aber gehen Sie und sagen Sie dem Handwerker, der mich erschaffen hat: ›Wie hässlich ist das Gefäß, das du gemacht hast!‹«

vergebung Da bemerkte Rabbi Elasar, dass er gesündigt hatte. Er stieg von seinem Esel, warf sich vor dem Mann nieder und sagte zu ihm: »Ich habe falsch zu dir gesprochen. Vergib mir!« Aber der Mann antwortete: »Ich werde dir nicht vergeben, bis du zu dem Handwerker gehst, der mich gemacht hat, und zu ihm sagst: ›Wie hässlich ist das Gefäß, das du gemacht hast.‹«

Rabbi Elasar folgte ihm weiter und bat ihn um Vergebung, bis sie den Heimatort des Mannes erreichten. Die Bewohner seiner Stadt kamen heraus, um Rabbi Elasar zu begrüßen, und sagten: »Friede sei mit dir, oh Lehrer! Oh Lehrer! Oh Meister! Oh Meister!«

Der Mann sagte zu ihnen: »Wen nennt ihr Meister?« Sie antworteten: »Die Person, die hinter dir geht.« Er sagte zu ihnen: »Wenn dieser ein Lehrer ist, soll es in Israel keinen mehr wie ihn geben.« Sie erwiderten: »Warum?«

Der Mann erklärte ihnen, was Rabbi Elasar ihm angetan hatte. Sie sagten aber: »Vergib ihm trotzdem, denn er ist ein Mann, der in der Tora sehr gelehrt ist.« Da sagte der hässliche Mann zu ihnen: »Um euretwillen werde ich ihm vergeben, aber nur, wenn er sein abwegiges Verhalten nicht wiederholt.«

Bald danach betrat Rabbi Elasar das Lehrhaus und lehrte: »Eine Person sollte immer geschmeidig sein wie das Schilf und nicht so hart wie eine Zeder. Und aus diesem Grund verdiente das Schilf, dass daraus ein Stift für das Schreiben von Torarollen, Tefillin und Mesusot gemacht werden sollte.«

Schöpfung Aus dieser Geschichte können wir vieles lernen. Als Erstes lernen wir, dass wir Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen dürfen. Denn alle, egal wie schön sie sind, welche Hautfarbe sie haben oder was für Kleidung sie tragen, wurden von einem Handwerker, dem Allmächtigen, gepriesen sei Er, erschaffen. Und wenn man über Seine Schöpfung klagt, sie auslacht oder ausgrenzt, klagt man automatisch auch gegen den Schöpfer.

Zum anderen lernen wir, dass auch Rabbiner, wie alle anderen Menschen, Fehler machen. Jedoch bestand die Größe von Rabbi Elasar darin, dass er seinen Fehler anerkannte und für sein Vergehen um Vergebung bat. Wir sehen auch, wie wichtig es ist, Rabbinern ihre Fehler zu verzeihen – und wenn auch nicht um ihretwillen, so doch um den Willen des Volkes und für die Ehre der Tora, die sie repräsentieren, verkörpern und vermitteln.

Doch das Allerwichtigste ist, dass man »biegsam wie ein Schilf und nicht hart wie eine Zeder« sein soll. Dass man nicht stur, sondern bereit sein soll, sich die Argumente anderer Menschen anzuhören, sie zu respektieren und gegebenenfalls auch zu akzeptieren und danach zu handeln. Man darf nicht zu stolz auf sich sein, denn das kann zur Überheblichkeit führen, wie es anfangs bei Rabbi Elasar der Fall gewesen ist. Man darf sich nicht als zu groß vorkommen, sondern sollte bescheiden genug sein, um die Zurechtweisung eines einfachen Mannes anzunehmen, wie es Rabbi Elasar getan hat.

Eine auf den ersten Blick einfache Geschichte kann also sehr lehrreich und zeitlos sein.

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025