Megilla

Wegweiser in der Fremde

Das Buch Esther, die sogenannte Megilla, regte nicht nur strikt religiöse, sondern auch viele philosophische Kommentatoren an. Foto: Flash 90

Zu keinem anderen Buch neben der Tora gibt es so viele Midraschim-Auslegungen wie zur Megillat Esther. Scheinbar ist das Buch über Königin Esthers Rettung der persischen Juden, das wir jedes Jahr an Purim lesen, äußerst beliebt bei den Kommentatoren. Das ist sicher kein Zufall: Kein anderes Buch hat einen so positiven Ausgang für das jüdische Volk in der Diaspora. Deshalb wurde es über Generationen hinweg als Anleitung für das jüdische Leben in der Fremde verstanden.

Für die spanischen Marranen des 15. Jahrhunderts war es die wichtigste Quelle jüdischer Identität, die sie nur im Verborgenen praktizieren konnten. Der erste uns bekannte Kommentar dieser Art wurde in jüdisch-arabischer Sprache von Rav Saadia Gaon verfasst, der 882 nach der Zeitenwende im oberen Ägypten geboren wurde, später nach Babylonien übersiedelte und sich dort zum größten Gelehrten seiner Zeit und Führer der babylonischen Juden entwickelte.

Sieben »Richtlinien« für das spirituelle und soziale Wohlergehen einer Gemeinschaft

Für Saadia ist das Buch Esther ein Beispiel dafür, wie Juden in der Diaspora leben können, insbesondere wenn sie von einer nichtjüdischen Mehrheit umgeben sind. Dies wird bereits im Titel seines Kommentars deutlich: »Das Buch der Geselligkeit im Exil«. In seiner Einleitung stellt er sieben »Richtlinien« vor, die für das spirituelle und soziale Wohlergehen einer Gemeinschaft wichtig sind, wenn sie unter fremder Herrschaft lebt. Er wendet diese Regeln auf die Geschichte Israels im Buch Esther und auf seine eigene Zeit unter muslimischer Herrschaft an. Erst in der Moderne wurde sein Kommentar wiederentdeckt.

Viele Juden konvertierten in der Hoffnung auf einen besseren Status.

Das Buch Esther beginnt damit, dass König Achaschwerosch auf seinem Thron sitzt, ein Festmahl für seine Fürsten und Diener hält und den Prunk seines Reichtums zur Schau stellt. Saadias erste Richtlinie lautet daher, sich nicht vom Luxus und von militärischer Macht verführen zu lassen, da man sonst seine Religion verachten und schließlich verlassen würde. Die wahre innere Pracht hingegen erlange man durch Demut und Spiritualität. Saadia hat dabei auch die politische und militärische Dominanz der Muslime seiner Zeit im Blick, die viele Juden zur Konversion verführte, da eine hohe Stellung in Politik und Militär mit dem Übertritt zum Islam verbunden war.

Unter muslimischer Herrschaft galten Juden und Christen als Dhimmis. Das sind sind Nichtmuslime mit niedrigem Status, die an ihrer Kleidung zu erkennen sind, besondere Steuern zahlen müssen, keine Waffen tragen und kein Land besitzen dürfen. Um Gefahren zu entgehen, musste man seine religiöse Identität verbergen und sich verstellen. Man musste sich darüber im Klaren sein, wozu man seitens des Feindes verpflichtet ist und was er von einem verlangt. In seiner zweiten Richtlinie zeigt Saadia die Grenzen dieser Praxis. Der Talmud (Joma 82a) zählt drei Kardinalsünden auf, für die man unter Zwang lieber sterben sollte, als sie zu übertreten: Mord, Unzucht und Götzendienst. Alles, was nicht darunter fällt, ist nach Saadia vertretbar.

Als zum Beispiel Esther, die er eine Dhimma nennt, von den Beamten des Königs zu einem Schönheitswettbewerb gezwungen wird, protestiert sie nicht, um ihre jüdische Herkunft zu verbergen und so noch größeren Schaden abzuwenden. Mordechai dagegen konnte dem Befehl Hamans, sich vor ihm niederzuwerfen, nicht folgen, denn Haman, so Saadia, habe sich zu einem Götzen gemacht. Mordechai konnte seine Herkunft also nicht länger verbergen und war bereit, den Tod auf sich zu nehmen.

Dem Vernichtungswillen Hamans ausgeliefert

So wie die Juden Persiens dem Vernichtungswillen Hamans ausgeliefert waren, so war das Leben unter muslimischer Herrschaft für die Juden von Pogromen, Massakern und Vertreibungen geprägt. Deshalb mahnt Saadia in seiner dritten Richtlinie, darauf vorbereitet und sich dessen stets bewusst zu sein, aber nicht zu verzagen, denn Gottes Rettung aus der Bedrängnis sei das Muster der jüdischen Geschichte.

Dies geschieht jedoch nicht automatisch, man muss sich mit einer Tätigkeit beschäftigen, die zur Erlösung führen kann, wie Saadia in seiner vierten Richtlinie am Beispiel von Esther zeigt. Er betont die gemeinschaftliche Reaktion auf Verfolgung durch gemeinsames Trauern, Fasten und Beten, wie es Esther veranlasst hatte. Das gemeinsame Gebet stärkt den Zusammenhalt in der Not. Doch Fasten und Beten bringen nicht die Lösung, wie Saadia in seiner fünften Richtlinie beschreibt: Jeder Einzelne müsse auch etwas tun, denn Gott helfe durch die Taten der Menschen.

Nach dem Sieg über die Unterdrücker sollen Juden keine Rache üben.

Saadia wechselt hier von der kollektiven Reaktion zum Individuum, er ermutigt die Juden, politisch aktiv zu werden und sich Verbündete zu suchen, die Einfluss nehmen können. Besonders in Esther sieht er ein Vorbild, da der Ausgang ihres Handelns ungewiss war. Wo auch die Gerechtesten in die Hände des Feindes fallen, war ihre Selbstaufopferung heldenhaft und führte schließlich zum Sieg der Juden über Haman.

Aber auch im Sieg über die Feinde soll die Gemeinschaft Maß halten und sich nicht von Rache oder exzessiver Gewalt leiten lassen. Saadia betont in seiner sechsten Richtlinie die Bedeutung von Mäßigung und Menschlichkeit. Mehrfach wird im Tanach davor gewarnt, sich über den Untergang der Feinde zu freuen, da es Gott missfalle, wenn seine Geschöpfe sterben. Die letzte Richtlinie knüpft an die erste an: Die Gemeinschaft soll die Erinnerung an Gottes Rettung bewahren, indem sie Feste wie Purim feiert. Diese Erinnerung stärkt die Identität und das religiöse Bewusstsein der Gemeinschaft.

Da Purim von den persischen Juden als verpflichtendes Fest für alle nachfolgenden Generationen übernommen und bis in die Gegenwart gefeiert wurde, sieht er die rabbinische Tradition bestätigt, dass ein kleiner Teil des Volkes den anderen Teil in der Halacha verpflichten kann. Rav Saadias Kommentar zur Megilla bietet einen tiefen Einblick in den Text aus der Sicht eines der größten Philosophen und Philologen der jüdischen Geschichte.

Der Autor ist Rabbiner und unterrichtet an einer Schule in Berlin.

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