Fehltritte

Schamlose Politiker

Schlagzeilen im Fall Anthony Weiner Foto: dpa

Die Geschichten dreier amerikanischer Politiker – Ex-Gouverneur Eliot Spitzer, Ex-Gouverneur Mark Sanford und der ehemalige Abgeordnete Anthony Weiner – vermitteln eine eindringliche Botschaft.

Diese drei Männer haben eingeräumt, sich entwürdigender moralischer Fehltritte schuldig gemacht zu haben. Alle drei mussten in Schande von ihren öffentlichen Ämtern zurücktreten. War das nun das Ende dieser Geschichte? Leider nein. Jeder Einzelne von ihnen ist nun wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zurückgekehrt.

Sanford wurde für seinen Staat South Carolina ins Repräsentantenhaus gewählt. Spitzer und Weiner hingegen, die sich an Chuzpe wechselseitig in nichts übertreffen, bewerben sich für die höchsten Posten in der Stadt New York – und ihnen werden große Chancen eingeräumt, auch gewählt zu werden.

Reue Im religiösen Leben gibt es das Konzept der Tschuwa, der Reue. Man würde es an Mitgefühl fehlen lassen, wenn man bestreiten wollte, dass die theoretische Möglichkeit der Tschuwa auch für Spitzer und Weiner besteht.

Aber man möge uns nachsehen, wenn einige uns die neue Bußfertigkeit der beiden und ihre schamlose Kampagne, mit der sie die Öffentlichkeit davon überzeugen wollen, dass sie sich gebessert hätten, weniger als Zeichen aufrichtiger Frömmigkeit einschätzen, als vielmehr getrieben von berechnenden und zynischen politischen Motiven.

Und das führt uns zur entscheidenden Rolle, die Scham im menschlichen Leben spielt. Scham bedeutet, Bewusstsein oder Kenntnis von Schmach, Schande oder Ehrverlust zu haben. Dieses Bewusstsein beruht auf Überlegung, auf dem Abwägen von Optionen, bevor man eine Entscheidung trifft, auch wenn es die falsche Entscheidung ist. Deshalb haben Tiere keinen Sinn für Scham, weil sie instinktiv handeln. Sie kennen kein Bewusstsein der Schande, und Scham spielt für ihre Handlungen keine Rolle – egal, wie katastrophal die Ergebnisse sein mögen.

Entwertung Deswegen sagt der Talmud, es sei eine der drei herausgehobenen Eigenschaften des jüdischen Volkes, dass wir »baischanim« sind, dass wir einen Sinn für Scham haben (Yevamot 79a). Scham ist unser entscheidendes Charakteristikum. Ohne sie läuft unser Selbst leicht Gefahr, entwertet zu werden, und wir werden wie Tiere.

Die Schamgrenzen fallen nach und nach in der ganzen Welt, und ganz aktuell in den USA. Was früher schambesetzt war, was man für sich behielt, wird heute voller Stolz öffentlich zur Schau gestellt. Und statt bestimmte Verhaltensweisen peinlich zu finden, ist es in Mode gekommen, mit solchem Benehmen zu protzen, als ob der Sinn für Scham ein Charakterfehler sei, eine persönliche Untauglichkeit.

In unserer narzisstischen Kultur, in der persönliche Befriedigung und Vergnügen vorherrschen, wird uns beigebracht, eine gesunde Person besäße keinen Sinn für Scham. Wir haben die Tabus aufgehoben, sodass Scham selbst ein Grund geworden ist, sich zu schämen. Aber um mit Adam im Garten Eden zu beginnen, der sich wegen seiner Sünde schämt: Es ist dieser Sinn für Scham, der uns menschlich macht.

Scham sorgt für Selbstkontrolle. Sie erinnert uns an einen Verhaltenskodex, an moralische Regeln, die wir nicht brechen sollen. Ein gesunder Sinn für Scham erinnert uns an unsere Verpflichtungen gegenüber anderen und gegenüber uns selbst. Das ist sehr entscheidend, weil die Geschichte uns eine zentrale Lektion lehrt: Wenn die Scham verschwindet, lässt der Niedergang der Zivilisation nicht lange auf sich warten.

Schande Und es ist ein Grund zur Sorge um die heutige amerikanische Zivilisation: Ohne Sinn für Peinlichkeit heißt es »Anything goes«, und das Konzept der Scham verschwindet aus unserem Lexikon. Die brennenden Worte des Propheten Jeremia springen uns ins Auge, wenn wir die Seite in der Schrift aufschlagen: »Sie werden mit Schande dastehen, weil sie solche Gräuel getrieben haben; aber sie wollen sich nicht schämen und wissen nichts von Scham.« (Jeremia 8,12).

Dass Politiker, die sich selbst und ihr Amt so herabgewürdigt und entehrt haben, nun öffentliche Vergebung suchen, indem sie erneut für ein öffentliches Amt antreten, ist mehr als unangenehm. Am meisten verstört dabei, dass sie gar nicht antreten würden, wenn sie nicht überzeugt davon wären, eine Chance zu haben. Was sagt das über die Wähler, die diese Männer wieder ins Amt bringen wollen? Sind sie derart willens zu verzeihen oder sehen sie gar nichts Falsches daran, was diese Leute getan haben? Ist die Wählerschaft heutzutage so unmoralisch oder derart unempfindlich geworden, dass wir von gewählten Politikern nichts Besseres erwarten?

Es sollte genau umgekehrt sein. Der Sinn für Scham ist es, der uns menschlich macht. Er ist die letzte Zuflucht für Sünder. Wenn wir, wie der Prophet Jeremia es formuliert, vergessen haben, wie man rot wird vor Scham, dann ist die Zivilisation in Gefahr. Scham ist nichts, wofür man sich schämen müsste.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.aish.com

Wajischlach

Zwischen Angst und Umarmung

Die Geschichte von Jakow und Esaw zeigt, wie zwei Brüder und zwei Welten wieder zueinanderfinden

von Rabbiner Joel Berger  05.12.2025

19. Kislew

Himmlischer Freispruch

Auch wenn Rosch Haschana schon lange vorbei ist, feiern Chassidim dieser Tage ihr »Neujahr«. Für das Datum ist ausgerechnet der russische Zar verantwortlich

von Chajm Guski  05.12.2025

Talmudisches

Freundlich grüßen

Was unsere Weisen über Respekt im Alltag lehren

von Yizhak Ahren  04.12.2025

Begnadigung

Eine Frage von biblischer Tragweite

Die Tora kennt menschliche Reue, gerichtliche Milde und g’ttliche Gnade – aber keine juristische Abkürzung

von Rabbiner Raphael Evers  03.12.2025

Geschichte

Wie Regina Jonas die erste Rabbinerin wurde

Die Ordination Ende 1935 war ein Ergebnis ihres persönlichen Kampfes und ihrer Kompetenz – ein Überblick

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  03.12.2025

New York

Das sind die Rabbiner in Mamdanis Team

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat Mamdani keinen Ortodoxen in seine Übergangsausschüsse berufen – eine Lücke, die bereits im Wahlkampf sichtbar wurde

 02.12.2025

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in Frankfurt

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt einmal im Jahr zusammen

 01.12.2025 Aktualisiert

Wajeze

Aus freier Entscheidung

Wie Jakow, Rachel und Lea eine besondere Verbindung zum Ewigen aufbauten

von Paige Harouse  28.11.2025

Talmudisches

Frühstück

Was schon unsere Weisen über die »wichtigste Mahlzeit des Tages« wussten

von Detlef David Kauschke  28.11.2025