Schwur

Hand drauf

Wollen sich aufeinander verlassen können: Pierre Brice (l.) und Lex Barker als Blutsbrüder in dem Spielfilm »Winnetou« (1965) Foto: cinetext

Welchen Wert hat ein gesprochenes oder geschriebenes Wort heute noch? Wörter sind billig zu haben, sie werden verramscht wie im Schlussverkauf. Wir verwenden sie so leichtfertig, wie wir Salz auf unser Essen streuen: mal weniger, mal mehr, jeder nach seinem Geschmack. Manchmal streuen wir zu viel, dann ist das Essen versalzen und ungenießbar. So ist es auch mit unseren Worten.

Vorbei sind die Tage, als wir mit dem Wort sorgsam umgingen, als das akribische Schreiben mit Feder und Tinte Zeit kostete und noch nicht jeder dazu in der Lage war. Heute brauchen wir nur unsere elektronischen Gadgets – der eine tippt, der andere drückt, der Dritte hat einen Touchscreen – schon ist das Wort geschrieben und in die Welt hinausgesendet. Es kann nicht mehr zurückgenommen werden und bleibt für immer im digitalen Müllhaufen der schönen neuen Welt.

Das moderne Zeitalter hat unser Verhalten verändert. Die Möglichkeit, das Geschriebene nach Belieben zu ändern oder zu löschen, macht uns weniger sorgsam beim Umgang mit den Wörtern. E-Mail, Facebook, Twitter – all diese Neuerungen erlauben es uns, Nachrichten schneller zu verkünden und auszutauschen. Allzu oft verlieren wir dabei den Überblick und die Kontrolle über das Gesagte oder Geschriebene.

Der Midrasch lehrt uns, dass Gott uns zwei Ohren gab und nur einen Mund, damit wir doppelt so viel hören sollen wie wir sprechen. Das ist schwer in einer Zeit, da Talkshows und Smalltalk den Hauptteil der Kommunikation ausmachen.

Einsturz Der Wochenabschnitt Matot erinnert uns daran, dass Worte Säulen sind, die eine Gemeinschaft halten oder sie zum Einsturz bringen können. Worte sind kein billiges Gut, das wir nach Belieben verschwenden und missbrauchen können. Matot konzentriert sich auf die stärkste Art des Wortes, die ein Mensch äußern kann: auf einen Neder, einen Eid.

»Wenn ein Mann dem Ewigen ein Gelübde ablegt oder einen Eid schwört, ein Enthaltungsgelübde auf seine Seele zu nehmen, dann soll er sein Wort nicht brechen. Alles, was aus seinem Mund hervorgegangen ist, soll er tun« (4. Buch Moses 30,3).

»Neder« ist kein Adjektiv, sondern ein Verb. Es beschreibt nicht die Eigenschaft, sondern »neder« ist eine Handlung. Sobald ein Mensch einen Neder abgibt, verspricht er etwas oder verpflichtet sich zu etwas. Er muss sich daran halten. Der Neder wird seine Zukunft und möglicherweise sein ganzes Leben beeinflussen.

Ich will ein Beispiel nennen: Sagen wir, ich gebe den folgenden Neder ab: »Jeden Morgen grüße ich auf der Straße zehn unbekannte Menschen und lächle sie an.« Auch wenn ich eines Tages niemanden grüßen möchte, weil mir nicht nach Lächeln zumute ist, muss ich mich daran halten, denn ich habe einen Neder abgegeben. Ich kann nicht einfach auf die Löschen-Taste drücken und meinen Neder wie ein beliebiges Wort in der Textverarbeitung entfernen.

folgen Dass ein Neder schwerwiegende Konsequenzen hat, sehen wir im Buch der Könige. Die Geschichte von Jeftah zeigt, welch weitreichende Folgen ein Schwur haben kann. Jeftah gelobte nach einem Sieg über die Ammoniter, das Erste, was ihm vor seiner Haustür begegnen würde, zu opfern – und musste seine Tochter umbringen. Es war ein Schwur, den Jeftah Gott gegenüber abgelegt hatte und nicht mehr zurücknehmen konnte. Er war verpflichtet, sich an sein Wort zu halten.

Das Judentum hat den Neder, den Eid, immer sehr ernst genommen. Der Talmud widmet diesem Thema einen Traktat, die Halacha beschäftigt sich tiefgründig damit. Es wird zwischen guten und schlechten Gelübden unterschieden und der Frage, wann sie gültig und wann ungültig sind. Für das Judentum ist das Halten von Gelübden und Eiden äußerst wichtig, sodass auch heute im orthodoxen Judentum – und oft auch außerhalb – keiner leichtsinnig etwas verspricht. In Israel wird einem

»Ich werde dich morgen besuchen« oder »Ich kaufe dein Auto« meistens der Zusatz »bli neder« hinzugefügt. Das heißt: ohne beabsichtigtes Gelübde. Man sagt etwas zu, ohne sich zu verpflichten. Angesichts der vielen Wörter, die aus unserem Mund kommen und oft Versprechen enthalten, ist es kein Wunder, dass sich manch einer mit einem »bli neder« absichern möchte.

Man kann sich schwer vorstellen, dass jeder Mensch sich an das hält, was er verspricht. Das Judentum geht sogar weiter: Am Erew Jom Kippur, am Tag der Reue, der Umkehr und der Versöhnung, sagen wir das Kol Nidre und heben alle unsere Schwüre, Gelübde und Versprechen auf – Baruch Haschem nur die Gott gegenüber und nicht den Menschen. Der himmlische Vater ist barmherzig und wird uns unser loses Mundwerk, das wir manchmal unbedacht benutzen, verzeihen.

Mit den Mitmenschen sieht es etwas komplizierter aus, deshalb auch das »bli neder«. Die heutige Parascha soll uns daran erinnern, dass wir für unsere Worte Haftung übernehmen müssen, dass wir nicht einfach reden und Worte missbrauchen sollen, die aus unserem Mund kommen.

Ermahnung Was können wir aus der Parascha noch mitnehmen? In der modernen Zeit der unbegrenzten Kommunikation vergessen wir manchmal, was Worte anrichten können und wo unsere ethischen Grenzen liegen. Wir sagen und schreiben, wir versprechen und wir schwören – und vergessen es sofort. Der Wochenabschnitt soll uns zur ethischen Normalität führen und uns daran erinnern, dass alles Gesagte einen Wert hat. Es gibt im Russischen ein gutes Sprichwort: »Das Wort ist kein Spatz. Sobald es entflogen ist, kann man es nicht mehr einfangen.«

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.

Paraschat Matot
Der Wochenabschnitt erzählt von Mosches letzter militärischer Unternehmung, dem Feldzug gegen die Midjaniter. Der Krieg bekommt als »Rache des Ewigen« einen religiösen Charakter. Nachdem er gewonnen worden ist, töten die Israeliten die midjanitischen Männer. Der Bericht birgt schwerwiegende historische und moralische Schwierigkeiten. Dann teilen die Israeliten die Beute auf und besiedeln das Land. Die Stämme Gad und Re’uwen sowie die Hälfte des Stammes Menasche erhalten Land auf der östlichen Seite des Jordans. Dies geschieht nicht ohne Bedingungen.

4. Buch Moses 30,2 – 32,42

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025