Einheit

Gemeinsamer Nenner

Foto: Getty Images/iStockphoto

Zusammenhalten! Können wir es schaffen? Seit Sommerbeginn, und zwar vom zweiten Tag von Pessach bis kurz vor Beginn des neuen Jahres, setzen wir uns mit dem Thema auseinander, wie Diskussionen oder gar Streit funktionieren können. So geht es 33 Tage lang während der Omerzählung um die Schüler von Rabbi Akiwa, die einander nicht respektiert hatten. In der Mitte des Sommers, vom 17. Tamus bis zum 9. Aw, trauern wir dann drei Wochen lang um die Zerstörung des Tempels.

Für dieses Ereignis wird vor allem der Hass, der damals unter den Menschen herrschte, verantwortlich gemacht. Zugleich wird aber immer betont, dass, wenn wir heute anders gelebt hätten, der Tempel längst wiederaufgebaut worden wäre. Oder anders formuliert: Bis zum heutigen Tag hat sich eigentlich nicht wirklich viel verändert. Noch immer gibt es keinen Res­pekt unter den Menschen.

Kindern ist bereits bewusst, dass wir für den Umgang miteinander Regeln brauchen.

Dabei sollte uns allen bewusst sein, dass wir einen anderen Umgang miteinander pflegen müssen. Am Berg Sinai haben wir zwei Tafeln erhalten – zweimal zwei, um genau zu sein. Einmal am 17. Tamus und einmal zu Jom Kippur. Als Mosche G’tt überzeugen konnte, uns unsere Fehler zu verzeihen, antwortet G’tt und sagte: »Salachti«, zu Deutsch »Ich verzeihe euch«.

Leben Fünf der Mizwot erklären, wie wir uns untereinander zu verhalten haben. Wenn ich nach den Geboten frage, nennen schon Kinder immer solche, die die zwischenmenschlichen Bereiche betreffen, dass man nicht lügen, nicht gewalttätig und nicht neidisch sein sollte. Den Kindern ist bereits bewusst, dass wir für den Umgang miteinander Regeln brauchen.

Im Laufe der Jahre sammeln wir alle neue Erfahrungen, die uns zu Orientierung in unserem Leben verhelfen. Dazu kommen politische Ansichten oder wirtschaftliche Interessen sowie Beziehungen und Familie – all das hilft bei der Entwicklung einer Identität. Doch so hilfreich wie es ist, kann das alles auch schädlich sein? Es ist sehr traurig, hier mit »Ja« antworten zu müssen.

Ideologien trennen uns mehr, als dass sie verbinden, ebenso leiden wir unter dem Antisemitismus, und selbst das Verhältnis zu anderen Familienmitgliedern oder Nachbarn kann problembehaftet sein. Kurzum, Menschen streiten miteinander und finden keinen Weg zueinander zurück.

»Alle sollen eine Vereinigung bilden« – dieses Zitat aus dem Rosch-Haschana-Gebet sollte Realität werden. Doch können wir es schaffen? Wenn man hört, dass wir am Berg Sinai »wie ein Mensch mit einem Herzen« gewesen sind, scheint uns das heute eher wie ein Traum zu sein.

Chance Dabei ist Einheit wichtig. Der Midrasch beschreibt den Versuch, Stöcke zu zerbrechen. Bei einem Stock alleine schafft man es problemlos. Sind es aber mehrere Stöcke, hat man keine Chance. Jeder von uns alleine ist zu schwach und zerbrechlich. Nur gemeinsam können wir unsere Ziele erreichen oder unseren Gegnern widerstehen. Haschem schätzt das, selbst wenn wir Schlimmes tun. Wichtig ist, dass Frieden unter uns herrscht (Derech Eretz Suta, 9).

Bescheidenheit ist eine Grundvoraussetzung. Eitelkeit bringt Menschen dazu, sich in den Mittelpunkt zu stellen und andere als unwichtig wahrzunehmen. Das heißt nicht, dass wir alle gleich in unserer Meinung und unserem Benehmen sein sollten. Je vielfältiger die Welt ist, desto schöner ist sie. Unsere Ideen und Träume können uns doch alle bereichern.

Jeder weiß, wie stark wir in schweren Zeiten zusammenhalten. Es fällt uns nicht schwer. Wir versuchen, die Differenzen zwischen uns zu beseitigen, und nehmen nur den Menschen wahr, der uns gegenübersteht. Seine politische Meinung, seine soziale Stellung, all das spielt dann keine Rolle. Die Töne des Schofars können uns daran erinnern.

anfangspunkt Tekia, Schewarim, Terua und Tekia: All diese Töne symbolisieren unterschiedliche Zeiten in unserem Leben. So steht die Tekia für den Anfangspunkt. Wir sind noch alle jung und frisch in unseren Überlegungen oder Wünschen. Erst sammeln wir Wissen und Erfahrungen, um zu entscheiden, wohin wir mit unseren Gedanken kommen und was wir erreichen werden.

Die Schewarim, die danach erklingen, ähneln dagegen eher schweren Diskussionen, die uns voneinander trennen, und die Terua signalisiert, dass man schon zu weit auseinandergegangen ist. Die letzte Tekia ist die Hoffnung und ein Zeichen dafür, dass wir es dennoch schaffen können. Wir sind in der Lage, zu unseren Ursprüngen zurückzukehren und einen gemeinsamen Weg zu finden.

Der Krieg in der Ukraine hat uns alle noch einmal daran erinnert, was passiert, wenn Menschen ihre Macht missbrauchen.

Der Krieg in der Ukraine hat uns alle noch einmal daran erinnert, was passiert, wenn Menschen ihre Macht missbrauchen. Unzählige Familien wurden auseinandergerissen, Menschen sind zu Tode gekommen, viele haben ihre Heimat, Angehörige und Freunde verloren.

Auch an diesem Rosch Haschana haben wir in dieser Hinsicht viel zu tun. Egal, wohin man schaut, überall gibt es Menschen, die Differenzen betonen und Streit eskalieren lassen, statt den gemeinsamen Nenner zu finden. Diesen Herausforderungen werden wir uns stellen müssen und sie meistern. Wir werden nicht vergessen, dass es leichter und besser ist, voneinander zu lernen, als übereinander zu reden. In diesem Sinne: Schana towa!

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025