Erklärung

Barmherzigkeit kennt viele Formen

Erklärung

Barmherzigkeit kennt viele Formen

Die Tora zählt 13 Attribute der Barmherzigkeit auf. Was symbolisieren sie – und was hat das mit dem Davidstern zu tun?

von Vyacheslav Dobrovych  19.05.2023 13:22 Uhr

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Bottalk ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Bottalk angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

In den Gebeten an Rosch Haschana und Jom Kippur nehmen sie einen zentralen Platz in der Liturgie ein: die 13 Attribute der Barmherzigkeit. Die Quelle dieser 13 Attribute ist der Text der Tora im Wochenabschnitt Ki Tissa: »(1) Herr, (2) Herr, (3) G’tt, (4) barmherzig und (5) gnädig und (6) geduldig und von (7) großer Gnade und (8) Wahrheit, der da (9) Tausenden Gnade bewahrt und vergibt (10) Missetat, (11) Übertretung und (12) Sünde und (13) reinigt« (2. Buch Mose 34, 6–7).

Zur Verortung der 13 Attribute der Barmherzigkeit in der Geschichte: Kurz zuvor hatten die Israeliten das Goldene Kalb angebetet. Nur wenige Wochen nach dem Empfang der Tora. Die Weisen beschreiben diese Situation mit sehr harten Worten: »Wie eine Braut, die unter ihrer eigenen Chuppa fremdgeht.«

Mosche bittet G’tt um Vergebung für die Nation und ist dabei sogar bereit, sein Leben aufzugeben, falls G’tt den Israeliten nicht vergeben sollte.
Doch Er vergibt, und Mosche bittet G’tt, dass Er Ihm Sein »Gesicht« zeigen solle. G’tt sagt, dass dies nicht möglich sei, aber er könne »hinter ihm« schauen. Nicht G’ttes »Vorderseite«, sondern seine »Rückseite« sehen. Am nächsten Tag offenbart Er ihm die 13 Attribute der Barmherzigkeit.

Wir wissen, dass es einer der Glaubensartikel im Judentum ist, dass G’tt weder einen Körper noch irgendeine Ähnlichkeit mit einem Körper hat. Was hat die »Rückseite« also zu bedeuten? Und was bedeuten die 13 Attribute?

METAPHER Die Rabbiner erklären, dass die »Vorderseite« eine Metapher für die Essenz G’ttes ist. Diese ist für einen Menschen nicht verstehbar, nicht greifbar. In den Worten des Zohar: »Herr der Welten … Du bist höher als das Höchste, verborgener als das Verborgenste … kein Gedanke kann Dich fassen« (Patach Eliyahu).

Die »Rückseite« ist eine Metapher für die Führung G’ttes. Die Art und Weise, wie der Schöpfer mit den Menschen umgeht. G’tt führt den Menschen mit den 13 Attributen der Barmherzigkeit. Aber was bedeuten die 13 Attribute praktisch? Die ersten beiden Attribute sind (1) Herr (Adonai) und (2) Herr (Adonai). Der G’ttesname, den wir als »Adonai« übersetzen, ist eigentlich das Tetragramm (Y und H und V und H). Dieser Name drückt immer die Barmherzigkeit des Schöpfers aus. Laut Talmud wird der Name zweimal hintereinander wiederholt, da G’ttes Barmherzigkeit vor der Sünde und nach der Sünde identisch sind. Mit anderen Worten: G’ttes Liebe ist bedingungslos. Sie wird nicht von der Sünde des Menschen beeinflusst.

(3) G’tt (El) meint G’ttes Attribut, den Menschen zu geben, was sie benötigen. Laut Raschi ist dieser Name, genau wie Adonai, ein Name der Barmherzigkeit. Allerdings ist die in diesem Namen enthaltene Barmherzigkeit nicht nur eine, die in Bezug zu den Taten des Menschen steht, sondern eine aktive Handlung G’ttes in Relation zum Menschen, wie zum Beispiel die Versorgung mit Nahrung, Gesundheit und anderem.

Das Kind wird von der Mutter schon vor der Geburt versorgt, ohne irgendetwas zu leisten.

Das vierte und fünfte Attribut sind (4) »barmherzig« (Rachum) und (5) »gnädig« (Chanun). Der Titel »Rachum« kommt vom Wort »Rachamim« und meint eine Barmherzigkeit, die mit einem Glauben an die Zukunft verbunden ist. Das Wort »Rachamim« ist mit dem Wort »Rechem« verwandt, welches als Gebärmutter übersetzt werden kann. Das Kind wird von der Mutter vollkommen versorgt, ohne irgendetwas zu leisten. Die Mutter liebt das Kind und weiß auch, dass diese Versorgung eine Vorbereitung für das zukünftige Leben ist.

GNADE (5) Chanun ist die Gnade, die gebraucht wird, wenn man sich bereits verschuldet hat und auf eine Begnadigung hofft. Ähnlich wie das erste und zweite Attribut ist das fünfte und sechste ein Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft, von Reinheit und Schuld und unterstreicht, dass G’ttes Liebe immerwährend ist.

Das Attribut Nummer sechs, welches wir als (6) »geduldig« übersetzen, bedeutet: Dem Menschen wird Zeit gegeben, sich zu verändern und an sich zu arbeiten, bevor die Konsequenzen der schlechten Taten erfolgen.
Die Attribute (7) »große Gnade« (Raw Chesed) und (8) »Wahrheit« (Emet) beziehen sich laut dem Kommentator Raschi auf die Barmherzigkeit G’ttes, die den Menschen ohne gute Taten und den Menschen mit guten Taten erwiesen wird. Große Gnade ist die Barmherzigkeit gegenüber denen, die keinerlei gute Taten haben, Wahrheit ist die Belohnung für die guten Taten.

Das neunte Attribut ist das Bewahren der Gnade für Tausende. Laut Raschi bezieht sich dies auf das Speichern guter Taten für Tausende Generationen im Voraus. Laut der Kabbala beziehen sich die Generationen in der Tora aber nicht nur auf künftige Nachkommen, sondern vor allem auf künftige Inkarnationen des Menschen. Das neunte Attribut bedeutet demnach, dass G’tt auch aufgrund von Verdiensten der Vorfahren oder aufgrund von Verdiensten in früheren Leben Barmherzigkeit walten lässt.

Die Attribute zehn bis zwölf werden vom Wort »vergibt« eingeleitet: (10) »vergibt Missetat« bezieht sich auf Sünden, die absichtlich begangen werden, (11) »vergibt Übertretung« bezieht sich laut Raschi auf Sünden, die extra begangen werden, um »G’tt wütend zu machen«, und (12) »vergibt Sünde« meint die unabsichtlichen Vergehen.

Das 13. Attribut ist die Reinigung. Gemeint sind die Leiden im Diesseits, die nur dazu dienen, um uns von unseren schlechten Taten in diesem und in früheren Leben zu reinigen.

TATEN Erklärt bedeuten die 13 Attribute also: (1–3) G’tt liebt den Menschen bedingungslos und versorgt ihn mit dem, was er braucht. (4–6) Er glaubt daran, dass der Mensch in Zukunft besser wird (die freie Wahl richtig nutzt), und falls nicht, so lässt er Gnade walten. Dem Menschen wird geduldig Zeit gegeben, sich zu verändern. (7–9) Wenn keine guten Taten gesammelt werden, hält die Versorgung weiter an. Wenn gute Taten gesammelt werden, wird dafür belohnt, auch für die guten Taten, die noch vor diesem Leben gesammelt wurden, wird belohnt werden. (10–12) Sünden jeder Schwere können bei aufrichtiger Reue vergeben werden. (13) Er lässt uns nur leiden, wenn es unserem eigenen (ultimativen) Besten dient.

Es ist verboten, die heiligen Attribute ohne einen Minjan im Gebet auszusprechen.

Die 13 Attribute der Barmherzigkeit gelten als dermaßen heilig, dass es verboten ist, sie ohne einen Minjan im Gebet auszusprechen (Schulchan Aruch, OC 565). Eine Einzelperson darf die 13 Attribute nur im Kontext des Tora-Studiums aussprechen. Der Talmud lehrt, dass ein Gebet, das mit den 13 Attributen gemeinsam gesprochen wird, immer eine Wirkung (eine reale Veränderung in der Welt) mit sich bringt (Babylonischer Talmud, Rosch Haschana 17b).

Die Zahl 13 steht für Einheit und Liebe. 13 ist der Zahlenwert des Wortes »Echad« (Eins) und »Ahava« (Liebe). Die Anzahl der Buchstaben in den Namen unserer Vorväter beträgt genau 13. Die Anzahl der Buchstaben in den Namen unserer Vormütter beträgt ebenfalls 13.

Gemeinsam ergeben Einheit und Liebe, die Namen der Mütter und Väter der Nation, die Zahl 26. Dies ist der Zahlenwert des Tetragramms.
Wenn wir die 13 Attribute aussprechen, so ist es, als würden wir unsere Hälfte präsentieren, unser nach oben schauendes Dreieck des Davidsterns, und würden G’tt bitten, seine Barmherzigkeit, sein nach unten schauendes Dreieck des Davidsterns hinzuzugeben. Damit der Name des Ewigen eins und für alle Nationen der Erde erkennbar wird.

Der Autor hat am Rabbinerseminar zu Berlin studiert und ist Sozialarbeiter.

Talmudisches

Positiv auf andere schauen

Was unsere Weisen über den Schutz vor bösem Gerede und die Kraft positiver Gedanken lehren

von Diana Kaplan  21.08.2025

Naturphänomene

Entzauberung des Gewitters

Blitz und Donnergrollen wurden lange als Zorn der Götter gedeutet. Doch die Tora beendete diesen Mythos

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  21.08.2025

Fulda

Vor 80 Jahren - Schuldbekenntnis der Bischöfe nach dem Krieg

Sie stand im Zenit ihres Ansehens. Nach Kriegsende galt die katholische Kirche in Deutschland als moralische Macht. Vor 80 Jahren formulierten die Bischöfe ein Schuldbekenntnis, das Raum für Interpretationen ließ

von Christoph Arens  18.08.2025

Ekew

Nach dem Essen

Wie uns das Tischgebet lehrt, bewusster und hoffnungsvoller durchs Leben zu gehen

von Avi Frenkel  15.08.2025

Talmudisches

Granatapfel

Was unsere Weisen über das Sinnbild der Fülle lehren

von Chajm Guski  15.08.2025

Geschichte

Quellen des Humanismus

Wie das Gʼttesbild der jüdischen Mystik die Renaissance beeinflusste

von Vyacheslav Dobrovych  14.08.2025

Wa'etchanan

Mit ganzem Herzen

Was wir von Mosche über das Gebet erfahren können

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  08.08.2025

Talmudisches

Schwimmen lernen

Was unsere Weisen als elterliche Pflicht verstanden

von Vyacheslav Dobrovych  08.08.2025

Grundsatz

»Wähle das Leben!«

Die jüdischen Schriften und Gebote betonen das Hier und Jetzt. Woher kommt dieses Prinzip?

von Daniel Neumann  07.08.2025