Analyse

Von wegen Frieden

Freundliche Gespräche: EU-Außenbeauftragte Mogherini und Irans Außenminister Zarif am 6. Juli vergangenen Jahres in Wien Foto: imago/ITAR-TASS

Ketzerisch sind meine Gedenk-Gedanken, denn: Nicht allein dem Rückblick sollte das Gedenk-Denken gelten, sondern vor allem der Gegenwart und Zukunft. Aufschlussreich ist dabei der Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Unser Blick richtet sich auf die Iranpolitik Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens. »Die« Juden, genauer: der jüdische Staat sowie »die« USA können dabei nicht außer Acht gelassen werden.

Vor 80 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Zu seiner Vorgeschichte gehört Appeasement, also das Wegsehen, Abwiegeln und Entgegenkommen der westeuropäischen Demokraten gegenüber dem großdeutschen Diktator-Aggressor. Hier Hitler, dort Chamberlain und Daladier.

opfer »Die« Juden (Groß-)Deutschlands, ab 1939 Europas, waren wehr- und hilflose Opfer. Am Ende sechsmillionenfach, denn es gab damals keinen jüdischen Staat, der ihr rettender Zufluchtsort gewesen wäre. Heute gibt es ein wehrhaftes Israel, dessen »Nie wieder Opfer«-Motto auch Taten folgen – sowohl reaktive als auch präventive. Während sich Deutschland, wie Westeuropa, im Beweinen der ermordeten Juden gefällt, missfällt das Verhalten der »neuen« Juden. Vergessen wird dabei, dass sich die »neuen« Juden heute so wehrhaft verhalten, weil Deutschland und Europa ihre wehrlosen Vorfahren gestern ermordet oder ans Messer geliefert haben. Kritik ist eben angenehmer als Selbstkritik.

Die USA und nicht nur ihr angeblich »verjudeter« Präsident Franklin Delano Roosevelt schwiegen über Deutschlands Judenverfolgungen, verschlossen den Juden ihre Tore und blieben auch 1939 »neutral«. Erst im Dezember 1941, nach Japans Angriff auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung, blieb Amerika keine andere Wahl, als Krieg mit Krieg zu beantworten. Aber auch Roosevelt ließ Auschwitz nicht bombardieren, obwohl es – und damit auch das Ende des Mordens – möglich gewesen wäre.

Obwohl Putin und andere Kriege führen, gilt Trump als »Kriegstreiber«. Umfragen belegen: Die Deutschen fürchten Trump mehr als Putin.

Alles andere als schweigsam, eher ein »Großmaul«, ist der heutige US-Präsident. Obwohl Putin und andere Kriege führen, gilt Trump als »Kriegstreiber«. Umfragen belegen: Die Deutschen fürchten Trump mehr als Putin. Trump redet viel. Auch viel Unsinn. Aber er lässt seinen Worten Taten folgen – siehe die Sanktionen gegen den Iran und das Aufkünden des Atomabkommens.

bedrohungslage Ein Appeaser ist er gewiss nicht, aber er hat bislang keine einzige Kugel oder Rakete auf den Iran abfeuern lassen. Offenbar erkennt er die Gefahr, die von einem nuklearen Iran für die ganze Welt ausgeht, während sich Europa einige Jahre Aufschub teuer erkaufen will und damit rein gar nichts auch an der eigenen mittelfristigen Bedrohungslage ändert.

Acht Monate nach dem Überfall Deutschlands auf Polen und erst, nachdem sie selbst im Mai 1940 von Hitlers Wehrmacht überfallen worden waren, wehrten sich Briten und Franzosen mit achtmonatiger Verspätung mehr schlecht als recht. Was lernen wir aus dieser Geschichte? »Wehret den Anfängen!« Das wird oft und gern gesagt, gerade in Deutschland. Aber den Worten folgen keine Taten.

Die bisherige Iran-Politik Britanniens unter David Cameron, Theresa May und, ja, Boris Johnson, sowie Frankreichs unter Hollande und Macron ähnelt dem einstigen Appeasement. Nein, jene Franzosen sind keine Wiedergänger von Daladier und jene Briten keine von Chamberlain, doch wie die damaligen Appeaser setzen sie dem Aggressor – und das ist der Iran, unabhängig von seiner Atompolitik – keine Grenzen.

Heute missfallen die wehrhaften Juden, die sich nicht ermorden lassen.

Im Gegenteil, sie ermuntern den iranischen Aggressor. Der kontrolliert mithilfe der Hisbollah-Schiiten-Miliz den Libanon sowie verstärkt durch Söldner und eigene Soldaten auch Syrien. Gegen pro-iranische Milizen und iranische Soldaten geht auch im Irak nichts. Pro-iranische Kräfte bekämpfen die Ölstaaten Saudi-Arabien und Bahrain von innen.

islamischer dschihad Mithilfe jemenitischer Schiiten bekämpft der Iran Saudi-Arabien von außen. In seinen Angriffen auf Israel wird der »Islamische Dschihad« der Gaza-Palästinenser vom Iran massiv mit Waffen und ideell unterstützt. Israel ist – bereits ohne eine einzige iranische Atombombe – strategisch umzingelt. Die Botschaft aus Teheran ist so eindeutig wie Catos später ausgeführte Forderung nach der Vernichtung des antiken Karthago: Das »zionistische Geschwür muss zerstört werden«.

Trotz allem Appeasement: Dieser Tage boten London, Paris und Berlin dem Iran eine Kreditlinie von 15 Milliarden US-Dollar, damit Teheran den teilweise vollzogenen Bruch des Atomabkommens zurücknehme. Wie damals fühlt sich der Aggressor durch Appeasement gestärkt und stellt seinerseits zusätzliche Bedingungen.

Allein der »schreckliche Trump« und der »furchtbare Netanjahu« beharren wenigstens auf wirtschaftlichen Strafmaßnahmen.

Allein der »schreckliche Trump« und der »furchtbare Netanjahu« beharren wenigstens auf wirtschaftlichen Strafmaßnahmen. Anders als damals ist heute Deutschland kein Aggressor, sondern Appeaser. Wird es dadurch wieder, wenngleich unwillentlich, Vorbereiter eines noch größeren Krieges?

die zeit Von Krieg ist noch keine Rede, wenn auch Israels Premier mit Blick auf den Iran dieser Tage verkündete: »Wenn einer aufsteht, um dich zu töten, töte du ihn zuerst.« In einem gemeinsam mit der »New York Times« sehr gut recherchierten (aber trotzdem in manchem fehler- und lückenhaften) Artikel über Irans atomare Aufrüstung und Israels Pläne, diese militärisch zu verhindern, erdichtete »Die Zeit« aus Netanjahus Zitat eine Quasi-Kriegserklärung an den Iran.

Das kommt davon, wenn man über den jüdischen Staat schreibt, ohne das Judentum und jüdische Geschichte zu kennen oder zumindest zu berücksichtigen. Israels durchaus geschichts-, bibel- und talmudkundiger Premier zitierte nämlich eine ethische Grundregel aus dem Talmud (Sanhedrin 72a). Mangels Macht konnten »die« Juden diese Weisung knapp 2000 Jahre nicht anwenden. So wenig wie zwischen 1933 beziehungsweise 1939 und 1945. Das ist heute eben anders. Damals missfielen die wehrlosen Juden. Sie wurden ermordet. Heute missfallen die wehrhaften Juden, die sich nicht ermorden lassen.

»Zeit und Co.« haben gut recherchiert, aber, wie die deutschen, britischen und französischen Appeaser, nichts verstanden. Sie haben Blätter und Bäume, nicht aber den Wald erkannt und folgern: »Das Atomabkommen sorgte für Frieden – bis US-Präsident Trump aus dem Vertrag ausstieg.« Ohne zu recherchieren, denkt man bei diesem Gedanken und angesichts des Gedenktermins vom September 1939 an Psalm 115: »Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht; sie haben Nasen und riechen nicht.«

Der Autor ist Historiker, Publizist und Hochschullehrer des Jahres 2017. Bücher unter anderem »Wem gehört das Heilige Land?«, »Deutschjüdische Glückskinder« und »Friedenskanzler Willy Brandt?«

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