Gedenken

Unsere Geschichte

Deborah Hartmann, Chefin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Foto: Yoram Aschheim

Bevor sie überhaupt verstanden wurde, fiel die neue Qualität der Verbrechen des 7. Oktober schon dem Vergessen anheim. Einer der ersten Kommentare zu einem Instagram-Post des Hauses der Wannsee-Konferenz zur Solidarität mit Israel verschob bereits den Fokus: »Solidarität mit Palästina gibt es nicht?« Kurz danach folgte der Vorwurf: »Etwas einseitig und ignorant, oder?« Die Kommentatorin erklärte auf Nachfrage unumwunden: »Ich beziehe mich auf die Tatsache, dass Israel in diesem Moment einen Völkermord in Palästina begeht und wir zuschauen – sogar unterstützen.«

»Völkermord«, »Genozid«, vereinzelt sogar »Holocaust« in Gaza: Das ist zu einer Parole in den sozialen Medien, auf Kundgebungen und durch die Klage Südafrikas sogar vor Gericht geworden. Nicht nur junge Menschen nutzen diese Begriffe. Einige Wissenschaftler lassen die tatsächlich genozidale Gewalt des 7. Oktober mit dem Hinweis auf den »Kontext« des Nahostkonflikts verschwinden.

Unverständnis, Abwehr und Rechtfertigung

Was sagt das über das Wissen über jüdische und deutsche Geschichte aus? War die Auseinandersetzung nicht intensiv genug, wenn nun begriffslos von Völkermord und Genozid gesprochen wird? Wir stehen vor einem Berg von Dilemmata, der uns dazu herausfordert, unsere erinnerungskulturellen Ansätze angesichts des Unverständnisses, der Abwehr und der Rechtfertigung des 7. Oktober selbstkritisch zu hinterfragen. Diese Selbstkritik ist keinesfalls als Anklage zu verstehen. Aber Erinnerungskultur wird in Deutschland oft als eine Bekenntniskultur wahrgenommen. Sie erschöpft sich in Appellen, man solle sich zur erinnerungskulturellen Verantwortung Deutschlands bekennen.

Für die Bildungsarbeit ist dies ein großes Hindernis. Wenn Lernende das Gefühl haben, dass von vornherein feststeht, was sie über die Geschichte der NS-Zeit denken sollen, bauen sie keine emotionale Bindung zu und damit auch kein Interesse an dieser Geschichte auf. Die Aufforderung zum Bekenntnis, der Wunsch nach einer klaren Positionierung gegenüber der NS-Geschichte sind oft hilflose Versuche, etwas moralisch Gutes zu bewirken.

Sie scheitern, weil sie abgelöst von den Erfahrungen und der Realität der Vermittlung in Schulen und Gedenkstätten geäußert werden. Gedenkstätten sind keine Orte der Katharsis. Sie sind Orte der Erfahrung und des Lernens, die von Trauer über Entsetzen bis zu Neugierde, Empathie und Engagement reichen können. Sie sind auch Orte der Irritation. Das bedeutet einen Verlust von Kontrolle. Es lässt sich bei einer offenen und ehrlichen Beschäftigung mit Geschichte nicht genau sagen, welche individuellen Schlüsse daraus gezogen werden, was als relevant erachtet wird.

Der 7. Oktober zeigt, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist.

Studien zeigen, dass Jugendliche Interesse daran haben, mehr über die Täter zu erfahren, weil für sie die NS-Geschichte wichtig für ein besseres Verständnis der eigenen Diskriminierungserfahrung ist. Das muss nicht im Widerspruch stehen zur Empathie mit Betroffenen. In der stark ritualisierten Erinnerungskultur, und das bezieht sich weniger auf die Gedenkstätten, werden aber die NS-Täter auf verstörende Weise ausgespart.

Unvergleichbarkeit des Holocaust

Beides, Betroffenenperspektiven sowie Täter, muss in den Blick genommen werden, um zu begreifen, was die Vergangenheit mit uns heute zu tun hat. Vielleicht können wir dann auch besser verstehen, was die Hamas am 7. Oktober mit ihrer Grausamkeit vermitteln wollte. Daraus folgt, auch mit Analogien und Vergleichen anders umzugehen. Die Tendenz, die Unvergleichbarkeit des Holocaust zu betonen, scheint eine Aura der Unantastbarkeit und eine irritierende Form der Ehrfurcht zur Folge zu haben.

In einem offenen Brief zum »Missbrauch der Erinnerung an den Holocaust« warnten Holocaust- und Antisemitismusforscher, die aktuelle Krise im Nahen Osten mit der Schoa in Bezug zu setzen. Sie beriefen sich ausschließlich auf dessen Ins­trumentalisierung durch israelische oder US-Politiker. Blind blieb die Kritik aber gegenüber den unsäglichen Vergleichen des Krieges gegen die Hamas mit historischen Genoziden oder den Verbrechen der Nazis. Hier herrscht ein Ungleichgewicht im Urteil über die Angemessenheit des historischen Vergleichs.

Bezüge zwischen dem Hamas-Terror und der Schoa als »intellektuelles und moralisches Versagen« zu verurteilen, steht historischem Verstehen genauso im Weg wie der Selbstermächtigung gegenüber der NS-Geschichte und der Sensibilität für die individuelle Prägung durch Gewaltgeschichte. Der 7. Oktober zeigt, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist. Gegenwartsbezüge sind notwendig, wenn wir die Relevanz der Vergangenheit vermitteln wollen. Diese Vermittlung geht nicht im Lernen von Fakten auf und kann nicht durch den Besuch eines historischen Ortes ersetzt werden.

Um zu verhindern, dass ein Begriff wie »Völkermord« kontextlos verwendet wird, um Verständnis dafür zu schaffen, was wir in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust über heutige Gewaltverbrechen lernen können, um einen Begriff davon zu bekommen, was der von der Hamas praktizierte Vernichtungsantisemitismus impliziert, ist es neben historischem Wissen wichtig, persönliche Bindungen zur Auseinandersetzung mit NS-Geschichte zu entwickeln. Sie wird »unsere« Geschichte nicht durch Betroffenheitsbekundung und Bekenntnis, sondern weil wir uns aktiv, neugierig und fragend mit ihr auseinandersetzen.

Die Autorin ist Leiterin der Gedenk­stätte Haus der Wannsee-Konferenz.

Sachsen

Unbekannte stehlen Stolperstein in Dresden

Der Staatsschutz ermittelt nun

 05.12.2024

Berlin

Menschenrechtler kritisieren »Allzeithoch des Antisemitismus«

»Das internationale Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird massiv verletzt«, sagte der zuständige Beauftragte der Bundesregierung, Frank Schwabe

 05.12.2024

Andreas Nachama

Gesine Schwan rechnet die Schoa gegen Israels Politik auf

Die SPD-Politikerin sollte die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit würdigen, doch ihre Rede geriet zur Anklage gegen Israel

von Rabbiner Andreas Nachama  05.12.2024

Den Haag

Amnesty International wirft Israel abermals Völkermord vor

Die Organisation beruft sich auf eigene Untersuchungen und Zitate israelischer Politik. Doch eine Unterorganisation hält den Bericht für voreingenommen

 05.12.2024

Bundestag

Eine etwas andere Resolution

Für den interfraktionellen Antrag zu Antisemitismus in der Bildung fehlt der Termin zur Abstimmung – die Kritik wächst

von Joshua Schultheis  05.12.2024

Einspruch

Unverzichtbare Hilfe

Abraham Lehrer warnt vor Sozialkürzungen, die den Rechtsruck in der Gesellschaft verstärken könnten

von Abraham Lehrer  05.12.2024

Deutschland

Die Kluft überbrücken

Der 7. Oktober hat den jüdisch-muslimischen Dialog deutlich zurückgeworfen. Wie kann eine Wiederannäherung gelingen? Vorschläge von Rabbiner Jehoschua Ahrens

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  05.12.2024

Leipzig

Rabbinerkonferenz kritisiert Universität Leipzig

Die Organisation wirft der Hochschule vor, vor antisemitischem Aktivismus einzuknicken

 05.12.2024

Bern/Jerusalem

Scharfe Kritik an »Amnesty International«-Bericht zu Israel

SIG-Generalsekretär Kreutner wirft Amnesty vor, nur die Delegitimierung des jüdischen Staates zum Ziel zu haben. Auch bei AI selbst wird Kritik an dem Bericht laut

von Imanuel Marcus  05.12.2024 Aktualisiert