Hamburg

Später Prozess

Hamburger Landgericht am 23. Juli: Der Angeklagte sitzt hinter einer Plexiglasscheibe. Foto: picture alliance/dpa

Noch im Lager hätten sie einander geschworen, bis an ihr Lebensende Zeugnis über die menschenverachtenden Zustände abzulegen – sofern sie überleben. »Das ist eine Pflicht, so sehe ich das«, sagt Halina Strnad am Ende ihrer Aussage, die live per Video aus Australien in den Saal 300 des Landgerichts Hamburg übertragen wird. Im Januar dieses Jahres sitzt die Rentnerin in einem Polizeirevier in Melbourne; ein Glas Wasser steht vor ihr auf dem grauen Tisch, an dem auch ihr Anwalt Rajmund Niwinski Platz genommen hat.

Halina Strnad ist fast genauso alt wie der 93-jährige Angeklagte Bruno D., der in der vergangenen Woche wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen und der Beihilfe zum versuchten Mord in einem Fall schuldig gesprochen wurde. Nach neun Monaten und 45 Gerichtsterminen wurde der Rentner zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Richterin Anne Meier-Göring setzte sie zur Bewährung aus. Weil der Täter zur Tatzeit minderjährig war, wurde das Jugendstrafrecht angewandt.

Seit Oktober vergangenen Jahres wurde vor dem Landgericht Hamburg verhandelt – längstens zwei Stunden pro Termin. Ärzte saßen neben dem Angeklagten, der stets mit dem Rollstuhl in den Saal gefahren und von seiner Tochter, seiner Ehefrau und weiteren Familienmitgliedern begleitet wurde. Er befolgte jeden Termin. Jedes Mal trug er dabei Sonnenbrille und Hut sowie eine Mappe, die er sich vor das Gesicht hielt, bis die Fotografen den Verhandlungssaal verlassen hatten.

NEBENKLÄGER In der Zeit, als Halina Strnad mit ihrer Mutter ins KZ Stutthof verschleppt wurde, schob der junge Schütze Bruno D. mit seinem Karabiner 98 Wache auf einem der Türme. Er sorgte so dafür, dass die Gefangenen nicht fliehen konnten. Die junge Frau, die im polnischen Poznan auf die Welt kam und damals noch Wagowska mit Nachnamen hieß, hatte im September 1944 bereits fünf Jahre im Ghetto in Łódz und im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zugebracht.

Im Gegensatz zu Auschwitz habe es in der Baracke keine Stockbetten gegeben, sondern nur Stroh auf dem Boden. Es sei so voll gewesen, dass sich nicht alle Frauen hinlegen konnten. »Bald gab es Platz. Viele sind sehr schnell gestorben«, sagt Halina Strnad.

Bis die Rote Armee das Lager Stutthof am 9. Mai 1945 befreite, waren mehr als 100.000 Menschen dorthin verschleppt worden.

Bis die Rote Armee das Lager am 9. Mai 1945 befreite, waren mehr als 100.000 Menschen dorthin verschleppt worden: polnische Zivilisten aus der Region, Juden aus Frankreich und Deutschland, aus Auschwitz und den geräumten Ghettos in Riga und Kaunas, norwegische und polnische Widerstandskämpfer sowie sowjetische Kriegsgefangene.

haftbedingungen Historiker schätzen, dass etwa 65.000 Menschen dort umgebracht wurden – in geheimen Genickschussanlagen im Krematorium des Lagers, am Galgen, mit Zyklon B in einer Gaskammer und in einem verschlossenen Eisenbahnwaggon sowie durch die lebensfeindlichen Haftbedingungen.

Sie seien »Untermenschen« genannt worden und hätten auch angesichts des Hungers und der fehlenden Hygiene bald wie »Untermenschen« ausgesehen, berichtet Halina Strnad und nimmt einen Schluck Wasser. »Die einzige Arbeit, die wir hatten, war, die Leichen herauszutragen und die Läuse zu töten«, erzählt sie weiter.

Die Frauen seien bespuckt und geschlagen worden. Als sich eine Mitgefangene darüber beschwerte, dass die Deutschen ihr ganzes Eigentum beschädigt hätten, habe ihre Mutter gesagt, dass der größte Schaden den Menschen angetan werde, und dabei auf ihre Tochter gezeigt. »Nach dem Krieg habe ich sehr hart daran gearbeitet, normal zu werden«, sagt Halina Strnad.

REGISTRIERKARTE »Wir haben unsere Knochen gerettet, jetzt müssen wir unsere Seele retten«, das habe ihre Mutter nach der Befreiung so gesagt, erzählt Lucienne-Suzanne »Schoschana« Rabinovici in ihrer 1991 erschienenen Autobiografie. Sie und ihr Cousin Shimon Indursky waren ebenfalls Nebenkläger im Hamburger Stutthof-Verfahren. Die Urteilsverkündung erlebte sie allerdings nicht mehr: Sie und drei weitere Nebenkläger sind vor Prozessende gestorben.

Viele der 40 Zeugen, darunter 35 Überlebende aus Polen, Israel, Australien, den USA, Litauen, Kanada, Frankreich und Norwegen, konnten wegen ihres Gesundheitszustandes nicht nach Hamburg reisen oder per Video befragt werden.

Viele Nebenkläger gaben ihre Zeugenaussagen per Liveschaltung zu Protokoll, andere betraten den Gerichtssaal persönlich.

Neben Halina Strnad wurde auch David Falahi Ackermann in Israel per Liveschaltung befragt – wegen der Corona-Pandemie konnte er nicht reisen. Vier weitere Überlebende aus Israel, Frankreich und Polen sowie der Sohn eines Überlebenden aus Norwegen haben den Gerichtssaal persönlich betreten und ausgesagt.

überlebende Genugtuung, Pflicht, Angst und Dankbarkeit – die Gedanken, Motive und Gefühle der jüdischen und nichtjüdischen Überlebenden waren so unterschiedlich wie die Nebenkläger selbst.

»Ich erinnere mich nicht an ihn, er sich wahrscheinlich auch nicht an mich – wir sind beide älter geworden«, sagt Rosa Bloch, als sie dem Angeklagten gegenübersitzt. Sie hat ihre Registrierkarte aus dem KZ dabei und streckt sie für alle sichtbar in die Höhe.

Ende Januar war die frühere Ingenieurin aus Israel angereist, um ihre Geschichte und die ihrer Mutter vor Gericht zu erzählen. »Es war das Ziel, unsere Anzahl zu verkleinern«, sagt sie, nachdem sie von Appellen, Hunden, Schlägen und Hunger berichtet hat.

Der Staat hat endlich klargemacht, dass Beihilfe zum Massenmord bestraft wird.

»Sie waren sehr grausam, weil sie dachten, Der Staat hat endlich klargemacht, dass Beihilfe zum Massenmord bestraft wird.seien keine Menschen mehr«, sagt Rosa Bloch. Die Wachleute hätten alles gesehen. »Ich will, dass sie eine Strafe bekommen«, betont die zierliche Frau mit fester Stimme. Sie könne nicht verzeihen und auch nicht vergessen. »Ich habe ihn angeschaut, auch in die Augen, aber es gab keine Reaktion«, sagt Rosa Bloch später in der Verhandlungspause.

BELASTUNG Für viele der Überlebenden war der Prozess enorm wichtig, aber auch belastend. Manche forderten eine Verurteilung, aber keine Haft. Michal Kor ließ über seinen Anwalt mitteilen: »Der Krieg ist vorbei. Ihm sollte vergeben werden. Ich möchte keine weiteren Bestrafungen.«

Für die Jugendstrafe ist ein Rahmen von sechs Monaten bis zu höchstens zehn Jahren Gefängnis vorgesehen. Die Staatsanwaltschaft hatte eine dreijährige Freiheitsstrafe verlangt. Einen Freispruch hatte der Verteidiger des Angeklagten, Stefan Waterkamp, gefordert.

Für die Haupttat sei es egal gewesen, ob der Angeklagte auf dem Wachturm gestanden habe oder nicht. Den Terror gegen die Gefangenen hätten die SS-Mannschaften im Lager und deren Helfer, die sogenannten Kapos, ausgeübt. Sein Mandant sei zur Wehrmacht einberufen und zum Wachdienst in dem KZ gezwungen worden.

In seinem sogenannten letzten Wort behauptete der Angeklagte, dass er erst durch die Berichte der Nebenkläger und der Sachverständigen von dem »Ausmaß der Grausamkeiten« erfahren habe. Er wolle sich bei den Überlebenden und Angehörigen entschuldigen.

Die Richterin sagte zum Angeklagten: »Sie hätten in Stutthof nicht mitmachen dürfen!« Sie kritisierte, dass er seine Schuld bis zuletzt nicht wahrhaben wollte und damals keinen Versuch unternahm, sich versetzen zu lassen. »Sie sehen sich weiter nur als Beobachter dieser Hölle«, sagte sie. »Doch Sie waren einer der Gehilfen dieser menschgemachten Hölle«, so Meier-Göring in der Urteilsverkündung.

GEWISSEN »Dass ich einmal einem KZ-Wachmann vor Gericht gegenübersitze, 75 Jahre danach – das ist etwas, was ich mir nicht habe vorstellen können«, sagte Henri Zajdenwergier nach seiner Aussage im Februar dieses Jahres. Der Franzose, der in der Textilbranche tätig war und seit über 20 Jahren Rentner ist, berichtete über die unmenschliche Behandlung im KZ Stutthof.

Der 92 Jahre alte Zeuge wurde von der bekannten Nazijägerin Beate Klarsfeld begleitet. Dem Angeklagten persönlich habe er nichts zu sagen, antwortete Zajdenwergier auf eine entsprechende Frage der Richterin. Er könne nichts entschuldigen, der Angeklagte müsse alleine mit seinem Gewissen zurechtkommen und sich mit seinen Taten auseinandersetzen. Henri Zajdenwergier fügte hinzu: »Ich verstehe nicht, warum dieser Mann erst jetzt angeklagt wird.« Die Richterin erwiderte: »Das ist ein großes Versagen der deutschen Justiz.«

Er könne nichts entschuldigen, sagte ein Zeuge, der Angeklagte müsse alleine mit seinem Gewissen zurechtkommen und sich mit seinen Taten auseinandersetzen.

Bekanntlich blieb das Gros der NS-Täter und -Helfer straffrei, viele konnten ihre Karrieren fortsetzen. Diesen Unwillen zur Strafverfolgung hatte der Autor Ralph Giordano 1987 die »zweite Schuld« genannt, den Geburtsfehler der Bundesrepublik Deutschland. Diese Hypothek belastete auch den späten Prozess in Hamburg. Zajdenwergier sprach von einer »Parodie«.

Das Verfahren steckte im Dilemma und warf Fragen auf: Was für eine Rolle spielt der Erziehungsgedanke als wichtiges Prinzip für das Jugendstrafrecht, wenn der Täter bereits ein Greis mit schlohweißem Haar ist? Wie kann ein Strafverfahren 75 Jahre nach der Tat Aufklärung bringen?

Deutsche Landeskriminalbeamte hatten einen Tatort zu begehen, der völlig verändert ist, der in eine Gedenkstätte umgewandelt worden war. Vor Gericht beschrieben sie die Höhe der wiederaufgebauten Türme und das Sichtfeld auf Gaskammer und Krematorium. Nebenkläger versuchten, auf Fotos und Lagerplänen zu erkennen, wo sich welche Barackennummer befunden haben könnte. Sachverständige erklärten dem Gericht, wie Menschen an Hunger sterben und wie an Zyklon B.

DILEMMA Ein Grunddilemma bestand darin, zwar einerseits sorgfältig die Beweise aufzunehmen, andererseits aber die tickende Uhr mit Blick auf das hohe Alter des Angeklagten und der Nebenkläger nicht aus den Augen zu verlieren. Bereits von Anfang an war die Anklage auf die Fälle beschränkt, die sich in bestimmten Bereichen des Hauptlagers zugetragen haben.

Bemerkenswert war die Entscheidung der Richterin, den bloßen Wachdienst in einem KZ wie Stutthof auch jenseits des sogenannten Todesblocks als Beihilfe zum Mord und auch als Beihilfe zum andauernden versuchten Mord zu werten. Verbrechen, die in der Kürze der Zeit auch jenseits des Anklagevorwurfs der Staatsanwaltschaft nachweisbar waren, wurden in drei Fällen berücksichtigt. Der Prozess hat stattgefunden. Und es hat einen Schuldspruch gegeben – das hatten sich wohl alle Nebenkläger erhofft.

Positiv lässt sich dem sehr späten Prozess abgewinnen, dass er durch die zeitliche Verzögerung für die zweite und dritte Generation erreichbar war.

Der Staat hat endlich klargemacht, dass Beihilfe zum Massenmord bestraft wird – auch wenn eine Bewährungsstrafe für manche Beobachter das falsche Signal ist.

Positiv lässt sich dem sehr späten und damit letztlich unbefriedigenden Prozess abgewinnen, dass er durch die zeitliche Verzögerung für die zweite und dritte Generation erreichbar war und damit für transgenerationale Fragen nach Umgang mit Schuld und Trauma, nach Gefühlserbschaften und Verantwortungsübernahme.

Der Enkel der Nebenklägerin Judy Meisel, Ben Cohen, sagte nach dem Urteil in einem Interview: »Es gibt Grautöne. Wenn wir heute verhindern wollen, dass es wieder dazu kommt, müssen wir diese Nuancen verstehen«, so Cohen.

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