9. November

Schwieriges Gedenken

Erinnerung an die Pogromnacht: Kerzenzünden am 9. November 1989 in Leipzig Foto: dpa

Köln, 9. November 1938. Unvermittelt läuten die Glocken des Kölner Doms. Durchdringend, aufrüttelnd der tiefe Klang des »Dicken Pitter«. Von allen Türmen dieser an Kirchen reich gesegneten Stadt wird jetzt Sturm geläutet. Wenige Minuten von der Hohen Domkirche entfernt, steht die Synagoge Glockengasse in Flammen. »Helft!«, rufen die Glocken. »Löscht das Feuer!«

In den Träumen meiner Kindheit strömen tatsächlich viele Menschen zusammen, um den jüdischen Nachbarn beizustehen. Leider nur der Versuch eines jüdischen Kindes, sich in eine bessere Welt zu fantasieren.

patriot Real waren die Erlebnisse meiner Mutter. In Kölns Altstadt hatten ihre Eltern eine koschere Metzgerei. Der Betrieb war über Schabbat geschlossen. Fromme Juden. Der Großvater stolzes Mitglied des Vereins jüdischer Handwerker. Ein deutscher Patriot. Zweites Garderegiment zu Fuß, hochdekoriert im Ersten Weltkrieg.

Dieses Geschehen hat als Albtraum meine Mutter bis ins hohe Alter begleitet und mich nachhaltig geprägt.

Bis zu diesem November 1938 hatte er gehofft, dass sich der braune Spuk verziehen würde. Doch dann die »Kristallnacht«! Mein Opa und mein Vater wollen die SA daran hindern, alles zu zerschlagen. Doch die Frauen lassen das nicht zu. Sie werfen sich auf den Boden, umklammern die Beine ihrer Ehemänner: »Wir wollen keine toten Helden!«

Draußen gafft die Menge. Mittendrin zwei »Frontschweine«, Kameraden des Großvaters aus dem Krieg. Seite an Seite hatten sie im Schützengraben gelegen. Sie lachen! Die SA ist weg. Jetzt kommen die anderen, vorsorglich mit einem Handwagen oder einer Schubkarre. Sie sind enttäuscht: »Hier ist ja nichts mehr zu holen.«

Dieses Geschehen hat als Albtraum meine Mutter bis ins hohe Alter begleitet und mich nachhaltig geprägt – wie auch die Sehnsucht nach Menschen, die sich ganz anders verhielten.

deportationen Da ist der Dorfpolizist im Oberbergischen, der während des Pogroms den greisen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde versteckt. Eine Lehrerin in Berlin, Elisabeth Schmitz, die es nach dem Novemberpogrom nicht länger ertragen kann, an einer Schule dieses »Verbrecherstaates« zu unterrichten. Da ist ein Pfarrer Gollwitzer, der Tage nach dem Pogrom öffentlich eine Bußpredigt hält, ein Probst Lichtenberg, der für die verfolgten Juden betet und umgebracht wird. Wir können heute den Mut dieser Menschen, deren Zahl mit Beginn der Deportationen in die Tausende steigt, kaum noch nachvollziehen.

Der Schlussstrich gelang nicht. Weder im Westen noch im Osten.

Wie mit dieser Geschichte umgehen? Nach dem Krieg, nach der Schoa, in den beiden deutschen Staaten? In der Bundesrepublik, die mit dem Grundgesetz die vielleicht wichtigste Antwort auf das »Dritte Reich« fand. In der DDR? Auch hier Hoffnung, Aufbruchstimmung. Zahlreich sind die jüdischen Intellektuellen, die aus der Emigration zurückkehren in einen offiziell antifaschistischen Staat, an dessen Spitze Verfolgte des NS-Regimes stehen.

In der BRD fand eine Entnazifizierung von Justiz und Polizei praktisch nicht statt. In der DDR wurden zahlreiche Richter entlassen. Lang wäre eine Liste der gegensätzlichen Entwicklungen. Im Westen wurde versucht, die Opfer zu entschädigen, ihren Besitz rückzuerstatten. In der DDR fand die »Arisierung« der Nazis ihre Fortsetzung in einer umfassenden Enteignung, der Überführung in volkseigenen Besitz.

gemeinsamkeit Und doch gab es eine große Gemeinsamkeit: die Sehnsucht nach einem Schlussstrich. Der betraf in erster Linie das jüdische Schicksal – und in einem Totschweigen der »Unbesungenen Helden«, der Menschen, die bewiesen hatten, dass es auch im »Dritten Reich« die Alternative der Mitmenschlichkeit gab.

Doch der Schlussstrich gelang nicht, weder im Westen noch im Osten. Im Zuge der APO-Zeit machte sich eine jüngere Generation an die Aufarbeitung der Geschichte, vor allem der jüdischen vor Ort. Ich war immer wieder von der Leidenschaft und dem Engagement vieler fasziniert: »Geschichte von unten«.

Ein nasskalter 9. Novemberabend in Ostberlin irgendwann in den 70er-Jahren: eine kleine Gruppe überwiegend jüngerer Menschen, Kerzen in den Händen. Still – und doch eine Provokation, wie die Nervosität der Volkspolizei verriet. Erinnerung an eine an dieser Stelle 1938 geschändete Synagoge. Sie hatten sich aufgemacht, den staatlich propagierten Antifaschismus zu hinterfragen.

Gerade im Umfeld der evangelischen Kirche traf es die Jüngeren mit voller Wucht, als sie das Ausmaß des Versagens ihrer Kirche erkannten.

schweigen Gerade im Umfeld der evangelischen Kirche traf es die Jüngeren mit voller Wucht, als sie das Ausmaß des Versagens ihrer Kirche erkannten. Nie wieder Schweigen, Vertuschen. Auch nicht die antisemitischen Vorkommnisse in der Bevölkerung, die Schändung jüdischer Friedhöfe, die als Hetze empfundene antiisraelische Berichterstattung etwa im »Neuen Deutschland«. Ihre Kerzen werden zum Symbol einer eigenständigen, sich schnell entwickelnden Bürgerrechtsbewegung.

9. November 1989: Freudentaumel in Berlin. Die Mauer wird überwunden. In Leipzig bewegt sich ein Trauerzug. Gedenken an die Pogromnacht 1938. Auszug aus dem Aufruf des Neuen Forums: »Gegen Rechtsradikalismus in der DDR. Keine Rufe! Keine Plakate! Mit Kerzen!« Tausende sind gekommen.

Ob 2019 das oft ritualisierte Gedenken an das Novemberpogrom in eine neue, breite bürgerliche Aufbruchstimmung münden wird? Die Politik mit ihren kurzfristigen Hauruck-Aktionen in Sachen Antisemitismus wird es nicht schaffen.

Der Autor, Jahrgang 1946, ist Publizist in Köln.

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