Meinung

Schirrmacher und das Selbstverständliche

Michael Wuliger Foto: Marco Limberg

Frank Schirrmacher, der vergangene Woche im Alter von erst 54 Jahren verstorbene Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ist in den zahlreichen Nachrufen deutscher und internationaler Medien als Innovator des Feuilletons gewürdigt worden und als Initiator großer gesellschaftlicher Debatten. Das war er, zweifelsohne. Aber Standards gesetzt hat Schirrmacher auch in einem anderen Bereich, dem deutsch-jüdischen Verhältnis. In den Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre um Antisemitismus – Stichworte Walser, Grass, Beschneidung – bezog er stets deutlich Stellung.

Natürlich haben das auch andere getan. Was Schirrmachers Interventionen jedoch auszeichnete, war ihre ruhige Klarheit, die ohne empörten Gestus auskam und ohne philosemitische Phrasen. Für ihn war die Zurückweisung antijüdischer Tendenzen keine moralisierende Pflichtübung, sondern eine Selbstverständlichkeit, gegründet in bürgerlichem Anstand, Herzenstakt und intellektueller Redlichkeit. Seine Texte über Juden und Deutsche strahlten deshalb eine bei diesem Thema in diesem Land seltene Authentizität aus.

niveau Das spiegelt sich auch wider in »seinem« Feuilleton. Jüdische Autoren liest man dort immer wieder, ganz selbstverständlich. Nicht als Quotenjuden zwecks »Wiedergutmachung« (das wäre unter Schirrmachers Niveau gewesen), sondern weil sie etwas beizutragen haben zur intellektuellen und künstlerischen Diskussion. Juden kommen hier nicht nur zu Wort, wenn es um die Schoa oder den Nahostkonflikt ging (wobei, was Letzteren angeht, im Feuilleton der FAZ eine für deutsche Verhältnisse wohltuende Sachkunde und Meinungsvielfalt herrscht), sondern wenn sie etwas Relevantes zu sagen haben.

Man könnte Schirrmachers FAZ-Feuilleton eine Insel der Normalität im ansonsten so neurotischen deutsch-jüdischen Verhältnis nennen. Doch den Begriff »Normalität« hat er in diesem Zusammenhang immer zurückgewiesen. Das Reden von »Normalität«, so Schirrmacher in seiner Dankesrede 2012, als er die Josef-Neuberger-Medaille der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf erhielt, sei der Versuch, unter Missachtung der Opfer die historische Realität umzukehren. Sprechen wir deshalb lieber von einer leider raren Selbstverständlichkeit im Umgang mit Juden, die Frank Schirrmacher auszeichnete. Dafür sei ihm gedankt.

Brüssel

»Gegen EU-Grundwerte«: Kommission verurteilt Festival

Eine Sprecherin der Europäischen Kommission hat den Boykott der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani in die Nähe von Antisemitismus gerückt und scharf verurteilt

von Michael Thaidigsmann  12.09.2025

Belgien

»Ruf unseres Landes beschmutzt«: Premier rügt Gent-Festival

Premier Bart de Wever kritisiert die Leiter eines belgischen Festivals dafür, die Münchner Philharmoniker und ihren Dirigent Lahav Shani ausgeladen zu haben

 12.09.2025

Berlin

Humboldt-Universität will gegen Antisemitismus vorgehen

Präsidentin Julia von Blumenthal sieht ihre Hochschule für künftige Auseinandersetzungen rund um den Nahost-Konflikt gut vorbereitet

von Lukas Philippi  12.09.2025

Gaza

Die Genozid-Lüge

Wie die Hamas nach dem 7. Oktober vom Täter zum Opfer wurde – und Israel zur Verkörperung des Bösen schlechthin

von Stephan Lehnstaedt  12.09.2025

Nachkriegsjustiz

Verhandlung über Massenmord: Vor 80 Jahren begann der Belsen-Prozess

Fünf Monate nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen erhob ein britisches Militärgericht in Lüneburg Anklage gegen die Täter. In einer Turnhalle begann damit vor 80 Jahren der erste große NS-Kriegsverbrecherprozess in Deutschland

von Karen Miether  12.09.2025

Belgien

Deutsche Botschaft beendet Partnerschaft mit Gent-Festival

Die Deutsche Botschaft in Brüssel hat nach der Ausladung der Münchner Philharmoniker ihre Zusammenarbeit mit dem Flandern-Festival in Gent eingestellt

von Michael Thaidigsmann  11.09.2025

Debatte

Zentralrat nennt Ausladung Shanis »fatales Signal«

Wer einen Künstler aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder seiner jüdischen Religion ausgrenzt und diskreditiert, trete die Demokratie mit Füßen

 11.09.2025

Berlin

Soziale Medien: »TikTok-Intifada« und andere Probleme

Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigt sich auf einer Fachtagung mit Hass im Netz: »Digitale Brücken, digitale Brüche: Dialog in Krisenzeiten«

 11.09.2025

Urteil

Bundesgerichtshof bestätigt Geldstrafen gegen Höcke

Das Landgericht Halle habe in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass der AfD-Politiker die verbotene SA-Parole »Alles für Deutschland« und »Alles für« gerufen hat

 11.09.2025