Perspektive

Raus aus der Blase

Miteinander reden, statt in den sozialen Medien zu meckern Foto: Getty Images

Wer Anschauungsunterricht braucht, wie polarisiert unsere westlichen Gesellschaften in den vergangenen Jahren geworden sind, muss nur ein paar Stunden auf Twitter verbringen.

Für viele, die sich dort tummeln, geht es nicht darum, andere Meinungen anzuhören, sondern möglichst laut und effektvoll die eigene Ansicht in die Welt hinauszuposaunen.

Community Selbstreferenzielle Rechthaberei und die Bestätigung in der eigenen »Community« sind da oft wichtiger als der Austausch von Argumenten.
Diese schöne neue Welt, die uns da in ihren Bann gezogen hat, barg ursprünglich das Versprechen, die Menschen in der Welt enger zusammenrücken zu lassen. Sie hat es der Menschheit ermöglicht, direkt miteinander zu kommunizieren – in einer Art und Weise wie nie zuvor.

Das gilt auch für die internationale Politik. Ein kurzer Tweet des US-Präsidenten erscheint uns heute bedeutender als das Abschlusskommuniqué eines Gipfeltreffens von Staats- und Regierungschefs. Gleichzeitig ist etwas nicht eingetreten, das viele sich von der Digitalisierung und gerade von den sozialen Netzwerken erhofft hatten: mehr Frieden, mehr Dialog, mehr gegenseitiges Vertrauen – und auch mehr Gemeinschaft.

Die Gräben in der Welt werden tiefer, Polarisierung und Fragmentierung nehmen zu, sowohl im Inneren unserer modernen Gesellschaften als auch auf der internationalen Ebene. Die viel beschworene »Weltgemeinschaft« ist in Wahrheit keine.

Feindbilder Die Auswirkungen des Ganzen erleben wir nicht nur in der virtuellen Welt. Sie sind leider allzu real. Für potenzielle Terroristen ist das Internet wie ein Durchlauferhitzer; sie finden dort nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch klare Feindbilder. Sie basteln sich ihre eigene Realität zusammen, werden hart und kompromisslos. Und irgendwann trauen sie sich, Dinge zu sagen und zu tun, die unsäglich sind oder es sein müssten.

Es kommt sehr darauf an, wem man zuhört – im Internet ebenso wie im richtigen Leben. Mit Tatsachen und Fakten wird leider viel zu fahrlässig umgegangen. Selbst heute verweigern sich viele konsequent dem Streben nach der Wahrheit. Sie lehnen die Empirie rundweg ab, basteln sich lieber ihre eigene Wirklichkeit.

Als Juden müssen wir uns diesem Trend entgegensetzen – denn das Judentum beruht in seinem Kern auf dem Streben nach Wissen.

Was also kann man gegen die zunehmende Polarisierung tun? Ein Ansatz ist der Dialog zwischen den Religionsgemeinschaften. Gerade religiöse Führer in den drei großen Weltreligionen haben hier in den letzten Jahren Beachtliches getan. Interreligiöser Dialog setzt voraus, dass man einander auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt begegnet.

Mit Tatsachen und Fakten wird leider viel zu fahrlässig umgegangen.

Interreligiöser Dialog ist auch mehr als nur die Verteidigung gemeinsamer Interessen (das ist er auch, zum Beispiel in Fragen der Religionsfreiheit). Der Dialog ist aber auch eine Form der Diplomatie, eine Suche nach Verständigung und gegenseitigem Verständnis – in einer Zeit, in der konventionelle Diplomatie zunehmend versagt.

Er gründet auf der Annahme, dass auch der andere das Recht haben muss, seine Argumente vorzubringen, und dass Menschenwürde niemals von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder einem anderen Merkmal abhängt.

Dialog Der Dialog zwischen Juden und Christen, gerade der mit der katholischen Kirche, war in den vergangenen Jahrzehnten eine Erfolgsstory. Nach Jahrhunderten des Misstrauens ist das gegenseitige Vertrauen enorm angewachsen. Freundschaftliche Beziehungen wurden aufgebaut auf allen Ebenen. Der kirchliche Antisemitismus wurde in die Schranken verwiesen: Niemand kann heute mehr unter Berufung auf die Kirchenoberen gegen Juden hetzen oder das jüdische Volk kollektiv für die Tötung Jesu haftbar machen.

Auch im Dialog mit den Verantwortlichen in der muslimischen Welt haben wir große Fortschritte erzielt. Selbst wenn noch eine Wegstrecke vor uns liegt: Wir sind im Gespräch – und das von Angesicht zu Angesicht.

Dialog Dieses Gespräch immer wieder zu suchen, ist mühsam, denn es erfordert die Bereitschaft, zuzuhören, Vorurteile abzulegen und notfalls die eigene Meinung zu ändern. Wer leugnet, dass auch Muslime unter Diskriminierung und Rassismus leiden und alles nur als Konstrukt des politischen Islam hinstellt, der ist unfähig, etwas zu verbessern. Schon daran scheitern viele sogenannte Influencer in der heutigen Zeit. Sie erreichen nur noch Menschen, die sich in der eigenen Blase tummeln.

Wenn wir wirklich die Welt verbessern und Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben wollen, müssen wir miteinander reden. Hier lehrt uns auch der Talmud: Wer seine Mitmenschen achtet, wird selbst geachtet. Gerade Pfarrer, Imame und Rabbiner müssten hier vorangehen, denn Dialog kann, wenn er ernsthaft geführt wird, die Sicherheitspolitik, die internationale Diplomatie und die Gesellschaftspolitik nachhaltig befruchten.

Religionen sind sinnstiftend für Milliarden von Menschen. Daraus erwächst eine Verantwortung. Es ist wichtig, dass wir alle ihr gerecht werden – und nicht selbstgerecht sind.

Der Autor ist Oberrabbiner von Moskau und Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz.

Hanau

Antisemitisches Plakat an Schule: Staatsschutz ermittelt

In einem angrenzenden Park gab es eine Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde. Besteht ein Zusammenhang?

 30.04.2025

Jom Hasikaron

Israel gedenkt der Terroropfer und Kriegstoten

Seit dem 7. Oktober 2023 sind 850 israelische Soldaten und 82 Sicherheitskräfte getötet worden

 30.04.2025

Josef Schuster

»Was bedeutet die Schoa heute noch für Deutschland?«

In seiner Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen reflektiert der Zentralratspräsident die Herausforderungen und Gefahren, vor denen die Erinnerung an die Schoa heute steht. Eine Dokumentation

von Josef Schuster  29.04.2025

Mauthausen

Überlebenswunderkind Eva Clarke: Geburt im KZ vor 80 Jahren

Es war eines der größten und gefürchtetsten Konzentrationslager der Nazizeit. Im Mai 1945 wurde es von US-Soldaten befreit. Unter den Überlebenden waren eine Mutter und ihr Neugeborenes

von Albert Otti  29.04.2025

Umfrage

Mehrheit hält AfD wegen deutscher Geschichte für unwählbar

Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes fragt die »Memo«-Studie Menschen in Deutschland nach dem Blick zurück

 29.04.2025

Potsdam

Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert besseren Schutz für Synagoge

Vermutlich wurde in Halle ein zweiter Anschlag auf die Synagoge verhindert. Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert deshalb dazu auf, auch die Potsdamer Synagoge besser zu schützen

 29.04.2025

Menschenrechte

Immer schriller: Amnesty zeigt erneut mit dem Finger auf Israel

Im neuesten Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation wirft sie Israel vor, einen »live übertragenen Völkermord« zu begehen

von Michael Thaidigsmann  29.04.2025

Berlin

Streit um geforderte Yad-Vashem-Straße

Zwischen dem Freundeskreis Yad Vashem und dem Roten Rathaus herrscht Unmut

von Imanuel Marcus  29.04.2025

Den Haag

Strafgerichtshof verpflichtet Chefankläger zur Vertraulichkeit

Karim Khan, der unter anderem gegen Benjamin Netanjahu einen Haftbefehl erwirkt hat, darf einem Bericht des »Guardian« zufolge künftig nicht mehr öffentlich dazu Stellung nehmen

 29.04.2025