Dokumentation

»Ohne Nürnberg gäbe es weniger Hoffnung auf Gerechtigkeit«

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht beim Festakt zum 75. Jahrestag des Beginns der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse im Saal 600 im Nürnberger Justizpalast. Foto: dpa

Sehr geehrte Damen und Herren, und vor allem, verehrter Benjamin Ferencz, auch wenn wir Ihnen heute nicht persönlich begegnen und danken können, ist es doch ein großes Glück, Sie unter uns zu wissen. Ihrer Weisheit und Beharrlichkeit verdankt dieses Land, verdankt Europa und die Welt viel. Ich danke Ihnen für Ihre Worte, für Ihre Arbeit und für Ihren lebenslangen Einsatz, aus dieser unvollkommenen Welt einen besseren Ort zu machen.

Benjamin Ferencz wird die Bilder noch vor Augen haben: Vor 75 Jahren war dieser Raum einer der wenigen im Krieg nicht zerstörten Gerichtssäle in Deutschland. Er war einmal einer der größten Gerichtssäle Bayerns. Und scheint doch nicht groß, nicht groß genug für das, was er vor 75 Jahren fassen sollte.

Nürnberg war im November 1945 ein Trümmerfeld, viele deutsche Städte waren Schutthalden. Unser Land war moralisch und materiell bis auf die Grundmauern zerstört. Unter diesem Berg an Schuld und Zerstörung lag auch längst das Recht in Trümmern.

Was sollte man diesem unvorstellbaren Ausmaß an Unrecht, das geschehen war, entgegensetzen?

Doch hier, in diesem Saal, sollte ein internationales Strafgericht tagen. Hier sollte Recht neu geschrieben werden. Während draußen vor dem Gericht der Schutt beiseite geräumt wurde, legten die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges in diesem Saal den Grundstein für die Rechtsordnung einer neuen Welt.

Die Welt musste sich neu ordnen. Dass die alte Ordnung verloren war, konnte man hier im Saal 600 so deutlich spüren, wie draußen vor dem Nürnberger Justizpalast. Das galt auch für das Völkerrecht. Auf den Umgang mit Verbrechen nationalsozialistischer Dimension war keine Institution vorbereitet.

Viele Orte, an denen dieses Unrecht geschehen war, kannte man vor 75 Jahren noch nicht.

Natürlich: Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Theresienstadt, ja. Aber einige habe auch ich erst in den vergangenen Jahren gesehen: Paneriai in Litauen, Malyj Trostenez in Belarus, Wieluń in Polen. Orte unvorstellbaren Grauens! Es sind Orte, die für den Willen zur Vernichtung, zur Auslöschung stehen, - und: für eine zutiefst verbrecherische Kriegsführung.

Was sollte man diesem unvorstellbaren Ausmaß an Unrecht, das geschehen war, entgegensetzen? Das Völkerrecht war bis zur Eröffnung des Prozesses vor 75 Jahren eine Angelegenheit von Staaten, nicht von Individuen. Selbst die Hauptverantwortlichen monströsester Verbrechen beriefen sich in diesem Saal – die Lektüre ihrer Aussagen lässt uns heute, 75 Jahre später, noch das Blut in den Adern gefrieren – auf die Straffreiheit ihres Tuns. Nullum crimen sine lege. Nulla poena sine lege.

»Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank«, schrieb Erich Kästner, der als Beobachter Zeuge der Prozesseröffnung in Nürnberg war.

Benjamin Ferencz hat dazu einmal gesagt, er habe dieses Argument nie gelten lassen, denn niemand habe ihm jemals glaubhaft machen können, dass er es für rechtens gehalten habe, den Kopf eines Kindes an einen Baum zu schlagen, um es zu töten.

Auf ein Unrecht dieses Ausmaßes konnte Straflosigkeit keine Antwort sein.

In diesem Saal saßen vor 75 Jahren 21 maßgebliche Vertreter des NS-Regimes auf der Anklagebank. Sie waren die Planer, Drahtzieher und Hauptakteure der NS-Gewaltherrschaft. Sie hatten Regierungs- und Befehlsgewalt ausgeübt. Nun sollten sie auch die Verantwortung dafür tragen. Nürnberg war der Ort des Gerichts. Das Londoner Statut schuf die Rechtsgrundlage für den Prozess. In Nürnberg standen erstmals die Spitzen eines Staates vor Gericht und sollten angeklagt werden, für die schwersten Verbrechen, die die Weltgeschichte bis dahin erlebt hatte: für die Entfesselung eines Angriffskrieges, für Kriegsverbrechen und für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Das Londoner Statut schaffte mit den Rechtsgrundlagen für die Nürnberger Prozesse eine doppelte Erneuerung für das Völkerrecht. Neu war nicht das Verbot von Kriegsverbrechen, der Misshandlung von Kriegsgefangenen, der Terrorisierung der Zivilbevölkerung und anderer schwerer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Alles das hatte sich seit dem Genfer Abkommen von 1864, der Haager Landkriegsordnung von 1907 und Folgeabkommen nach dem Ersten Weltkrieg völkergewohnheitsrechtlich etabliert.

Auch die Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges waren völkerrechtlich bereits seit 1928 durch den Briand-Kellogg-Pakt geächtet. Allerdings traf die Verantwortung für Verstöße gegen das Völkerrecht bis dahin nur den Staat, in dessen Namen die Verbrechen verübt worden waren. Neu war im Londoner Statut die Verankerung einer individuellen strafrechtlichen Verantwortung der Personen, die sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht hatten, und die Eröffnung strafrechtlicher Verfolgungsmöglichkeiten. Und neu war die Schaffung eines Straftatbestandes der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der in den Nürnberger Prozessen vor 75 Jahren erstmals zur Anwendung kam.

»Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank«, schrieb Erich Kästner, der als Beobachter für die Neue Zeitung Zeuge der Prozesseröffnung in Nürnberg war.

Die Idee der Nürnberger Prozesse war bahnbrechend.

Und tatsächlich waren es zunächst die Auftraggeber der Gräueltaten, die Kommandeure und Geldgeber, hohe Staatsbeamte, Minister und Militärführer, die sich in Nürnberg verantworten sollten. In den zwölf Nürnberger Nachfolgeprozessen wurden dann auch die direkten Tatbeteiligten, Soldaten und SS-Leute, aber auch Ärzte und Juristen belangt.

Die Idee der Nürnberger Prozesse war bahnbrechend: »Verstöße gegen internationales Recht«, stellten die Richter damals treffend fest, »werden von Menschen begangen, nicht von abstrakten Einheiten.« Regierungsverantwortliche und hohe Staatsbeamte sollten sich für ihre verbrecherischen Befehle nicht länger hinter der völkerrechtlichen Immunität verstecken, die ausführenden Befehlsempfänger nicht länger auf einen Befehlsnotstand berufen können.

Das bedeutete nicht weniger, als das: Das Recht stellte sich gegen die Macht. Es sollte ihrem eklatanten Missbrauch Grenzen setzen. Es war die Grundlage für ein universales Völkerstrafrecht und eine internationale Strafgerichtsbarkeit – für eine an Recht und Gesetz orientierte internationale Ordnung. Es war auch die Grundlage für ein Weltrechtsprinzip, nach dem Kriegs- und schwerste Menschenrechtsverbrechen nirgendwo auf der Welt ungesühnt bleiben sollen.

Der Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg war eine Revolution. Er schrieb nicht nur Rechtsgeschichte, er schrieb Weltgeschichte.

Weltgeschichte auch deshalb, weil sich die Alliierten für diesen Prozess auf ein gemeinsames Verfahren geeinigt hatten. Im Verhältnis zwischen Amerikanern, Briten, Franzosen und Russen herrschte schon bald nach der gemeinsamen Siegesfeier Ernüchterung. Der Nürnberger Prozess aber wurde dennoch ein gemeinsames Verfahren. Er zeichnete eine neue, andere Geschichte vor: die Entstehung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit.

Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage und der Rassegesetze, war für die Deutschen ein Spiegel.

Sie kam spät, erst nach dem Kalten Krieg zustande – der Weg war mühsam und von Rückschlägen gezeichnet. Und doch: Es war ein großer Durchbruch. Ohne den Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg gäbe es den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag heute nicht.

In Deutschland ebnete Nürnberg den Weg zu einer nationalen juristischen Aufarbeitung der NS-Geschichte. Das Menschheitsverbrechen der Schoa fand allerdings erst mit Jahren Verspätung den Weg vor deutsche Gerichte, im Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 und schließlich in den Frankfurter Auschwitzprozessen ab 1963. Ohne die Beharrlichkeit von Menschen wie Fritz Bauer und seiner wenigen Mitstreiter wäre es vermutlich nicht dazu gekommen. Doch Nürnberg war eine Voraussetzung für den ersten Auschwitzprozess.

Denn was wüssten wir ohne die Beweiserhebung in den Nürnberger Prozessen heute über die Verbrechen des Nationalsozialismus? Was wüssten wir über die Täter und ihre Opfer – ohne die Akten und Schriftstücke der NS-Verwaltung, die Aufnahmen von Leichenbergen in den Konzentrationslagern, die die Anklage in Nürnberg zusammengetragen hatte?

Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage und der Rassegesetze, war für die Deutschen ein Spiegel. Nürnberg konfrontierte sie vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit der Tatsache, dass der Nationalsozialismus selbst, einschließlich seiner Kriegsführung, ein Verbrechen gewesen war. Der Prozess und das Urteil von Nürnberg erlaubten keine Rechtfertigung mehr, sie verlangten Läuterung. Doch damit taten sich die Deutschen schwer.

Der Lernprozess war langwierig. Was Nürnberg eingeführt hatte, dass schwerste Völkerrechtsverbrechen nicht ungesühnt bleiben dürfen, setzte sich als Grundsatz erst spät durch. Ideen, den Gerichtshof als eine dauerhafte Einrichtung zu erhalten, als einen Außenposten der Vereinten Nationen, waren Zukunftsmusik. Bis der Geist von Nürnberg sich materialisierte und ein internationaler Strafgerichtshof Wirklichkeit wurde, vergingen noch Jahrzehnte. Erst nach den Grausamkeiten des Jugoslawienkrieges wuchs schließlich der Wille, eine internationale Institution einzurichten, die Völkerrechtsverbrechen ahnden sollte. Die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa war die Zeit eines optimistischen Internationalismus.

Die internationale Strafgerichtsbarkeit zeigt immer wieder auch, wie schwierig es ist, der Welt mit normativen Prinzipien zu mehr Gerechtigkeit verhelfen zu wollen.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben wir dagegen erleben müssen, dass sich die Hoffnungen auf eine weitergehende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen nicht erfüllten. Alte und neue Mächte treten in Konkurrenz zueinander. Weltweit verpflichtende Normen werden als Einschränkung der eigenen Macht empfunden. Die internationale Strafgerichtsbarkeit ist immer häufiger Anfechtungen ausgesetzt, auch bei uns in Europa. Die Vereinigten Staaten und Russland sind dem Internationalen Strafgerichtshof nicht beigetreten, ebenso wenig China, Indien und einige Dutzend anderer Staaten.

Die USA, die maßgeblich zur Einrichtung des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg beigetragen hatten, und deren Völkerrechtler damit auch Ideengeber für den Internationalen Strafgerichtshof waren, arbeiteten unter der noch amtierenden Administration aktiv gegen das Haager Gericht.

Und doch: ich vertraue darauf, dass die Nation, die unser Land über Jahrzehnte als ein Freund auf seinem Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit begleitet hat, nun zurückkehrt zu einer Zusammenarbeit, die auch den Wert internationaler Strafgerichtsbarkeit anerkennt. Und ich hoffe, dass der Strafgerichtshof durch sein Wirken das Vertrauen in seine Unparteilichkeit und völkerrechtliche Unbestechlichkeit stärken kann, die er braucht, um die Skeptiker zu überzeugen.

Der US-Chefankläger in Nürnberg, Robert Jackson, hatte das Fernziel vor 75 Jahren formuliert: »Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden.«

Ich weiß, dass Anklagen des Internationalen Strafgerichtshofes gegen Staatsführer gerade in fragilen Friedensprozessen nicht immer für hilfreich gehalten werden. Strafprozesse können den politischen Spielraum für Verhandlungen einengen. Der Druck, den sie ausüben, kann den Rückzug von Diktatoren erschweren. Wie schließen wir aus, dass das Strafrecht als Waffe gegen den politischen Gegner geführt wird, wenn wir eigentlich den Boden für einen politischen Dialog bereiten wollen? Diese Frage stellt sich für Vermittler in vielen Binnenkonflikten der Welt. Sie spielte zum Beispiel eine Rolle bei der Beendigung der Apartheidpolitik in Südafrika und bei den Friedensgesprächen in Kolumbien. Internationale Strafgerichtsbarkeit operiert zwangsläufig in einem Spannungsfeld zwischen rechtlichen Erwägungen und politischen Interessen.

Nürnberg war ein Durchbruch auf dem Weg zur Stärkung des Rechts in den internationalen Beziehungen. Aber die internationale Strafgerichtsbarkeit zeigt immer wieder auch, wie schwierig es ist, der Welt mit normativen Prinzipien zu mehr Gerechtigkeit verhelfen zu wollen.

Manche hochfliegende Hoffnung hat der Internationale Strafgerichtshof bisher nicht erfüllen können. Aber in der Anfechtung des Haager Gerichts zeigt sich auch seine Wirksamkeit, die Furcht von rücksichtslosen Autokraten davor, einer gerechten Strafe zugeführt zu werden.

Bei aller Unvollkommenheit und allen Defiziten hat sich die internationale Strafgerichtsbarkeit etabliert. Auf ungekannte Exzesse der Macht mit den Mitteln des Rechts antworten zu wollen, war vor 75 Jahren ein Anfang. Heute ist der Internationale Strafgerichtshof eine Institution. Schwerste Verbrechen nicht zu bestrafen, wäre fatal – diese Botschaft von Nürnberg ist nicht folgenlos geblieben.

Völkerrechtsverbrechen sind ein Zivilisationsbruch. Bleiben sie sanktionslos, leidet nicht nur das Recht, sondern nimmt die Menschheit insgesamt Schaden.

Ohne Nürnberg wären Kriegsherren aus Serbien, Kroatien oder aus Ruanda wegen Massenmord, Folter und Vergewaltigung nicht bestraft worden; würde auch Völkermord heute nicht als Straftat geahndet.

Ohne Nürnberg gäbe es kein Weltrechtsprinzip und könnten nationale Gerichte nicht gegen Völkerrechtsverbrechen vorgehen. Sie hätten kaum Handhabe gegen zwei nach Deutschland geflohene ehemalige Angehörige des syrischen Geheimdienstes, die sich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in ihrem Heimatland vor einem Koblenzer Gericht verantworten müssen.

Ohne Nürnberg gäbe es weniger Hoffnung auf Gerechtigkeit – auch für die Opfer. Für Lewiza und Dalal etwa, nur zwei von vielen Jesidinnen, die vom IS verschleppt und vergewaltigt wurden; die später in Deutschland Aufnahme fanden und denen hier geholfen wird, ihr Trauma zu überwinden. Sie waren die Protagonistinnen des Dokumentarfilms »Sklavinnen des IS« des britischen Juristen Philippe Sands und des Regisseurs David Evans. Ich freue mich, dass Philippe Sands heute hier bei uns ist.

Dalal und Lewiza hoffen darauf, dass sich die Täter eines Tages vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen. Sie hoffen darauf, dass ihre Klage gehört wird, denn Ziel solcher Prozesse ist nicht allein die Verurteilung der Täter. Wichtig ist, dass die Opfer Zeugnis darüber ablegen können, welches Unrecht ihnen widerfahren ist, dass Gräueltaten dokumentiert und festgehalten werden. Wichtig ist, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Denn hinter diese Wahrheit kann niemand zurücktreten. Sie bleibt ein Vermächtnis, eine Aufgabe und eine Bewährung. Dieses Ziel hatte auch Nürnberg.

Strafgerichtsbarkeit kann nur ein Teil der Antwort sein. Völkerrechtsverbrechen sind ein Zivilisationsbruch. Bleiben sie sanktionslos, leidet nicht nur das Recht, sondern nimmt die Menschheit insgesamt Schaden. Das Ziel muss sein, das gebrochene Recht im Namen der Menschheit selbst wiederherzustellen. Im Konflikt mit der Macht muss sich das Recht behaupten. Es kann die Macht nicht immer überwinden, aber es kann ihr doch Grenzen setzen.

Nicht das Konzert der Mächtigen allein, sondern die Stärkung des Rechts in den internationalen Beziehungen schafft das Fundament einer überstaatlichen Ordnung, die die Welt braucht – und dringend weiter braucht.

Das ist das Vermächtnis von Nürnberg. Wir Deutsche sind in besonderer Weise dazu aufgerufen, dieses Vermächtnis weiterzutragen und zu verteidigen.

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