Berlin

»Jeder Einzelne trägt Verantwortung«

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (M.) und Elke Büdenbender beim Besuch der Dauerausstellung mit Matthias Haß vom Haus der Wannsee-Konferenz Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zum 80. Jahrestag der sogenannten Wannsee-Konferenz die individuelle Verantwortung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern staatlicher Institutionen betont. »In unserem demokratischen Staat trägt jeder Einzelne Verantwortung, auch Beamte und Beamtinnen in einer hierarchisch organisierten Verwaltung«, erklärte Steinmeier in Berlin anlässlich der Filmpremiere Die Wannseekonferenz .

Der Film unter der Regie von Matti Geschonneck zeigt die Arbeitsbesprechung hoher Polizei- und Verwaltungsbeamter des NS-Staates, die später als Wannsee-Konferenz bezeichnet wurde.

GEDENKSTÄTTE Mit einem Besuch der Berliner Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz hatte Steinmeier zuvor an den 80. Jahrestag der Zusammenkunft hochrangiger Vertreter von Behörden, SS und NSDAP erinnert.

Neben einem Gang durch die Dauerausstellung gemeinsam mit seiner Frau Elke Büdenbender stand ein Gespräch mit jungen Beamtinnen und Beamten mehrerer Bundesministerien zur Frage der historischen Verantwortung auf dem Programm.

Am Abend äußerte sich Steinmeier dann zum ZDF-Film Die Wannseekonferenz, der am kommenden Montag (24.1.) im Fernsehen laufen soll. Der Präsident nannte den Film beeindruckend gut, aber auch verstörend.

»Was wir sehen und erleben, ist eine reibungslos funktionierende Verwaltungsmaschinerie, Ressortabstimmungen, Vorlagen und Abläufe, die sich – abgesehen vom Inhalt der Besprechung – in nichts von denen unterscheiden, die es auch heute noch in Ministerien und Behörden gibt«, sagte Steinmeier. »Es ist das Gewöhnliche, das Vertraute, das uns anspringt, entsetzt und verunsichert.« Der Film zeige eine Inszenierung der Banalität des Bösen.

MORDMASCHINERIE »Wie konnte die Mordmaschinerie des Nationalsozialismus so perfekt funktionieren? Und was bedeutet persönliche Verantwortung in einer Diktatur?«, fragte Steinmeier. Er verwies auf Erkenntnisse der Schriftstellerin Hannah Arendt. Totalitäre Systeme würden nicht nur von Dämonen und Monstern getrieben. Vielmehr sei es so, »dass in diesen Systemen so viele kleine Rädchen ineinandergreifen, bis die Verantwortung des Einzelnen unkenntlich geworden ist und kein Unrechtsbewusstsein mehr existiert. Die Banalität des Bösen ist die seelenlose Bürokratie einer Diktatur, die Herrschaft der Niemande.«

Steinmeier fügte hinzu: »Seien wir keine Niemande. Scheuen wir die Verantwortung nicht - auch nicht die, Nein zu sagen, wo es Recht und Mitmenschlichkeit gebieten.«

Teilnehmer der Wannseekonferenz unter Leitung des SS-Offiziers Reinhard Heydrich waren Staatssekretäre aus Berliner Ministerien, Vertreter der NSDAP, des Sicherheitsapparats und der Verwaltung der Ostgebiete. Zentrale Figur war neben Heydrich der SS-Offizier Adolf Eichmann, Referatsleiter »Judenangelegenheiten und Räumungen« im Reichssicherheitshauptamt. Zu dem Treffen existiert ein 15 Seiten langes Protokoll, auf das sich auch der ZDF-Film stützt.

PROTOKOLL »Es zeigt, wie Sprache selbst zu einem Mordwerkzeug wird«, sagte Steinmeier. Sie diene zur Abstrahierung und Verschleierung. Dies habe es Beamten, Polizisten oder Lokführern erlaubt, an der Deportation und Ermordung von Millionen Juden mitzutun, und zugleich ihr Gewissen entlastet. Millionen Deutsche seien zu Mitwissern geworden. »Das Protokoll der Wannseekonferenz ist eine Tatwaffe«, erklärte der Bundespräsident. »Die Schmauchspuren, die sie hinterließ, sind bis heute nachweisbar.«

Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 steht heute für die arbeitsteilige Zusammenarbeit von Behörden, Beamten und Parteiorganisationen am Massenmord an den europäischen Juden. So nahmen an der Wannsee-Konferenz unter anderem auch hochrangige Vertreter der Vorgängerinstitutionen des heutigen Auswärtigen Amtes, des Bundesjustiz- und des Bundesinnenministeriums teil.

Einziger Tagesordnungspunkt der etwa anderthalb Stunden dauernden Sitzung vor 80 Jahren waren organisatorische Fragen zur sogenannten »Endlösung der Judenfrage«.

Zu diesem Zeitpunkt war das Schicksal der Juden in Europa bereits besiegelt: Mehrere Hunderttausend waren schon seit Sommer 1941 bei Massenerschießungen in Ostpolen und in der besetzten Sowjetunion gestorben. Die erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Wannsee-Konferenz bezeichnete Besprechung fand in einer Villa am Wannsee statt, die der SS als Gästehaus diente. epd/dpa

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