Reaktionen

Im Visier

Israelfeindlicher Protest an der Columbia University: Die Angst bei jüdischen Studierenden an amerikanischen Elite-Hochschulen wächst.

Reaktionen

Im Visier

Was hat der 7. Oktober mit der Welt gemacht? Wie viel ertragen wir noch? Ein Annäherungsversuch

von Nicole Dreyfus  03.05.2024 07:52 Uhr

Israelische und jüdische Zeitungen weltweit drucken in regelmäßigen Abständen die Namen aller Toten seit dem 7. Oktober 2023 oder erinnern durch verändertes Layout an die Grausamkeit der Situation. Beim Anblick solcher Titelseiten hält instinktiv mein Atem an. Schnell auf den Modus Weiterblättern schalten, sich gar nicht erst der Namen annehmen, die Schwarz auf Weiß abgedruckt sind, und damit des Schmerzes, dass diese Menschen für immer aus dieser Welt sind. Einfach so.

Es zeugt nicht von Ignoranz, keineswegs, bloß von verzweifeltem Selbstschutz. All diese Namen, die Individuen waren, Familien hatten, sich dem Leben hingaben. Jedes Mal der Stich ins Herz, auch beim Anblick der »Bring them home«-Plakate. Aber ich schaffe es nicht, die Seite wegzublättern, das innere Pochen wird lauter.

Und wenn es mir dann doch irgendwie gelingt, weiterzublättern, herunterzuscrollen oder zu swipen, ereilt mich sogleich das schlechte Gewissen, der Andacht der Toten nicht genügend Rechnung zu tragen. Andacht nicht im religiösen Sinne, wohl aber in dem, dass jeder Mensch, der sein Leben seit dem 7. Oktober verloren hat, es verdient hätte, weiterzuleben.

Weiter leben: So betitelte Ruth Klüger ihre vor mehr als 30 Jahren erschienene Autobiografie. Es war kein Holocaust-Buch, das ein weiteres Mal das Grauen der KZs vor Augen brachte. Es wurden nicht die brutalen Details der Schoa geschildert. Ruth Klüger reflektierte vielmehr die Auswirkungen des Erlebten auf die Entwicklung eines Menschen.

Bewältigung scheint in diesem Zusammenhang erneut das Zauberwort zu sein. Und es hat seit dem 7. Oktober wohl wieder Hochkonjunktur. Wie bewältigen wir als jüdische Gemeinschaft dieses transgenerationale Trauma, das sich seit dem 7. Oktober wieder reaktiviert hat und mit extrem scharfen Konturen versehen worden ist?

Antworten können erst in einigen Jahren geliefert werden

Antworten können wohl erst in einigen Jahren geliefert werden, wenn alles aus zeitlicher Distanz beurteilt werden kann, wenn Studien dazu verfasst worden sind, wenn die Verarbeitung des Erlebten ansatzweise abgeschlossen ist. Es bedingt wohl einen gewissen Zynismus, dies zu behaupten. Bewältigung wurde noch nicht einmal in Gang gesetzt. Tag für Tag prasseln neue – der biblische Ausdruck sei erlaubt – Hiobsbotschaften auf uns ein. Mit der Geschwindigkeit des Schreckens kann kaum Schritt gehalten werden.

Können wir als jüdische Gemeinschaft dieses Trauma überhaupt bewältigen?

Es sind nicht nur sieben Monate vergangen, seit die Hamas im Süden Israels einfiel und massenhaft Menschen folterte, ermordete oder in Geiselhaft nahm. Genauso lange ist es auch her, dass der Antisemitismus – wieder und immer noch – in seinen wildesten Auswüchsen grassiert und sich Juden an vielen Orten nicht mehr sicher fühlen. Angefangen an Orten, wo sie sich zu Hause wähnten.

In ganz Europa zeigen die Attacken auf jüdische Menschen und Einrichtungen, unabhängig davon, ob in Deutschland, in der Schweiz oder anderswo, latente Gefahren auf. Aber auch weit weg, wenn bei jüdischen Studierenden an den Elite-Universitäten in den USA die Angst wächst, denn die Unruhen an der Columbia in New York haben längst auf den Rest des Landes übergegriffen.

Dass skandierte Intifada-Parolen einschüchtern, ist evident

Die Ausweitung der Demonstrationen gegen Juden per se wird von »propalästinensischen« Aktivisten gefördert und gefeiert. Dass skandierte Intifada-Parolen einschüchtern, ist evident und führt vor Augen, wie die landesweiten Protestaktionen die Gräben in der amerikanischen Gesellschaft seit dem 7. Oktober noch tiefer als zuvor klaffen lassen.

Es ist nicht nur das äußere Sicherheitsgefühl, das seit dem 7. Oktober ins Wanken geraten ist, das bis zu diesem Zeitpunkt für Stabilität im Leben sorgte. Es ist offensichtlich auch das innere, das neu austariert werden muss. Also doch »weiter leben«? Natürlich, aber es ist ein zunehmend großer Balanceakt. Die Sorge um die USA, falls Donald Trump erneut Präsident der Vereinigten Staaten wird, der Krieg in der Ukraine sind zusätzliche Ingredienzen für die geopolitische Unsicherheit.

Wenn überdies noch Meldungen wie der Angriff Irans auf Israel die partiell aus den Fugen geratene Weltordnung noch mehr ins Ungleichgewicht bringen, bietet sich immer mehr Menschen nur noch eine Strategie an: sich den persönlichen Aspekten des Lebens hinzugeben, dem Schönen zu frönen. Trivial? Zu egoistisch? Vielleicht, für nicht wenige aber auch die einzige Möglichkeit, mit der Latenz der Bedrohung, den Folgen und der Aussichtslosigkeit des Krieges zurechtzukommen. Wenigstens für einen Augenblick.

Ich höre Menschen der älteren Generation sagen, dass das Gefühl der Bedrohung bereits in den 70er-Jahren einen Kulminationspunkt erreicht hatte – Jom-Kippur-Krieg, Ölkrise, Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Auch damals war die Bedrohung offensichtlich. Auch damals gab es eine bis dahin nicht oft vorgekommene Gleichzeitigkeit der globalen Krisen. Doch wir Menschen, die noch nie einen Krieg erlebt haben, lernen erst jetzt, damit umzugehen, und was es heißt, dieser permanenten Gefahr ausgesetzt zu sein, inklusive der Sorge, was als Nächstes kommt.

Wie viel ertragen wir noch? Was hat der 7. Oktober mit der Welt gemacht?

Kommentar

Den Nachkommen der Schoa-Opfer kaltschnäuzig und nassforsch die Leviten gelesen

Ausgerechnet zum 60. Jubiläum der deutsch-israelischen Beziehungen kritisiert die ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann die Kriegsführung in Gaza, und das auch noch, ohne die Hamas zu erwähnen

von Esther Schapira  16.05.2025

Nahost-Diplomatie

Medien: Syrien und Israel führen indirekte Gespräche. Trump: »Al-Sharaa ist ein starker Typ«

Der US-Präsident forciert bei seinem Nahostbesuch die Idee weiterer Abraham-Abkommen mit Israel - auch Syrien soll Interesse signalisiert haben

 16.05.2025

Justiz

Ankläger von Weltstrafgericht tritt zurück

Chefankläger Karim Khan wird des sexuellen Missbrauchs beschuldigt

 16.05.2025

Interview

»Es hätte viel kürzer und klarer sein müssen«

Peter Neumann über das AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes, die internationale Debatte darüber und ein mögliches Verbotsverfahren gegen die rechtsextreme Partei

von Nils Kottmann  16.05.2025

Gedenken

Sinti und Roma erinnern an Widerstand in Auschwitz-Birkenau

An diesem Tag sollte der Lagerabschnitt B II e, das sogenannte »Zigeunerlager«, in dem Tausende von Sinti und Roma inhaftiert waren, aufgelöst und sämtliche Häftlinge in den Gaskammern ermordet werden

 16.05.2025

Interview

»Außenpolitik geht nicht mit Belehrungen«

Der Bundestagsabgeordnete Armin Laschet (CDU) über die Nahostpolitik der neuen Bundesregierung, deutsche Geiseln in Gaza und die Zukunft der Abraham Accords

von Joshua Schultheis  16.05.2025

Berlin

»Die rohe Gewalt der Demonstranten erschüttert mich«

Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, verurteilt Angriffe gegen Polizisten bei israelfeindlicher Kundgebung

von Imanuel Marcus  16.05.2025

Tel Aviv/Ravensburg

Ricarda Louk kämpft für das Andenken an ihre Tochter Shani

Am 7. Oktober 2023 wollte Ricarda Louks Tochter mit anderen jungen Menschen tanzen und feiern – dann kam das Massaker der Hamas. Vor einem Jahr wurde Shanis Leiche gefunden. So geht es ihrer Familie heute

 16.05.2025

Berlin

Polizist von Israelhassern beinahe zu Tode geprügelt – 56 Festnahmen bei »propalästinensischer« Demonstration

Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) verurteilt die Tat und die bei der Kundgebung verbreitete »antisemitische Hetze«

von Imanuel Marcus  16.05.2025 Aktualisiert