Meinung

Holokitsch mit Anne Frank

Wachsfigurenkabinette stammen von den Rummelplätzen des 19. Jahrhunderts. Dort wurden zum Volksvergnügen Abbilder Prominenter ausgestellt, vom Kaiser bis zum Axtmörder, daneben Missgeburten und andere Abnormitäten. Heute sind derartige Einrichtungen fast ausgestorben. Für den billigen Thrill haben wir RTL2. Als einziges großes Wachsfigurenkabinett hat Madame Tussauds überlebt, mit Hauptsitz in London und einer gut besuchten Dependance in Berlin.

Die zeigt seit voriger Woche neben Justin Bieber, Spiderman und natürlich Adolf Hitler als neuestes Exponat in Lebensgröße Anne Frank. Das jüdische Mädchen sitzt lächelnd am Schreibtisch in dem Amsterdamer Hinterhauszimmer, in dem sie sich versteckt hielt, bis sie 1944 nach Bergen-Belsen deportiert wurde, wo sie 1945 starb. Die Szene wurde, wie Madame Tussauds stolz vermeldet, originalgetreu nach zeitgenössischen Quellen rekonstruiert.

Schoa Es gibt für derartige pseudonaturalistische Nachbildungen der Realität einen Fachbegriff: Man nennt das Kitsch. Und das ist in diesem Fall nicht bloß eine ästhetische Kategorie. Was das Berliner Wachsfigurenkabinett macht, läuft auf eine Verniedlichung der Schoa hinaus. Anne Frank war eines von Millionen Opfern des viehischsten Massenmords der Geschichte. Bei Madame Tussauds wird aus ihr eine Teenie-Ikone auf »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«-Niveau.

Wobei das Wachsfigurenkabinett nur das vorläufig letzte Glied in der langen Kette des Anne-Frank-Merchandising ist. Es gibt Anne-Frank-Filme, Anne-Frank-Comics, sogar ein Anne-Frank-Musical. Ein Anne-Frank-Videospiel für Jung und Alt ist wahrscheinlich auch schon irgendwo in Vorbereitung.

Aus der fabrikmäßigen Vernichtung der europäischen Juden ist ein Stück Popkultur geworden, allen pseudopädagogischen Vorwänden der Vermarkter zum Trotz. Oder glaubt irgendwer ernsthaft, dass deutsche Jugendliche, von denen laut einer kürzlich erhobenen Umfrage 20 Prozent nicht wissen, was Auschwitz war, nach der Besichtigung der Wachsfigur ein historisches Aha-Erlebnis haben werden?

Als vor ein paar Jahren Madame Tussauds seine Hitlerfigur aufstellte, riss ein empörter Besucher dem wächsernen Führer den Kopf ab. Mit den Betreibern des Kabinetts sollte man dasselbe tun. Jedenfalls metaphorisch.

Dokumentation

»Es ist nicht die Zeit für ›Ja, aber‹, es ist Zeit für Solidarität«

Die Rede von Zentralratspräsident Josef Schuster bei der großen Berliner Demonstration gegen Judenhass im Wortlaut

 10.12.2023

Berlin

Mehr als 3000 Menschen bei »Nie wieder ist jetzt«-Demo

Trotz des starken Regens haben sich am Brandenburger Tor mehr als 3000 Menschen versammelt, um gegen Antisemitismus zu demonstrieren

 10.12.2023

Zypern

Iraner sollen Anschlag auf Israelis geplant haben - Festnahme

In dem EU-Staat wurden zwei Iraner festgenommen

 10.12.2023

Antisemitismus an US-Unis

Uni-Präsidentin Liz Magill tritt zurück

Die Präsidentin der Pennsylvania University auf Fragen zu Judenhass auf dem Campus ausweichend geantwortet

 10.12.2023

Terror

Hamburg erlaubt wieder spontane Pro-Hamas-Kundgebungen

 09.12.2023

Debatte

Kultusministerkonferenz: Hochschulen müssen stärker gegen Antisemitismus vorgehen

Wissenschaftsminister sprechen sich für Antisemitismusbeauftragte aus

 08.12.2023

Berlin

Innenminister wollen Leugnung des Existenzrechts Israels bestrafen

Tests zur Einbürgerung sollten mit Fragen zur besonderen Verantwortung für jüdisches Leben ergänzt werden

 08.12.2023

Auswärtiges Amt

»Keine Gleichsetzung der Siedlerbewegung mit der Hamas«

Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisiert das Auswärtiges Amt für seinen Visa-Stopp für israelische Siedler

von Michael Thaidigsmann  08.12.2023

Dresden

AfD in Sachsen gesichert rechtsextremistisch

Es ist der dritte Landesverband mit einer solchen Einstufung

 08.12.2023