Pro – André Freud: Zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes ist das Recht auf Asyl anders verstanden worden
Das Recht, sich in der EU frei zu bewegen (Vertrag von Schengen), wurde unter der Bedingung vereinbart, dass die Außengrenzen der EU geschützt sind (Vertrag von Dublin). Nicht geschlossen, aber kontrolliert. Wer möglicherweise ein Bleiberecht hat, darf einreisen; wer dies erkennbar nicht hat, darf nicht einreisen; in Zweifelsfällen kann der Aufenthaltsstatus nur vorübergehend sein, bis er geprüft worden ist – danach ist das Bleiberecht zu gewähren oder die Ausreise zu vollziehen.
Wenn Dublin nicht funktioniert, dann ist Schengen infrage gestellt. Bislang weicht die Wirklichkeit von der Rechtslage ab. Beides zusammenzuführen, ist Aufgabe des Bundesinnenministers, der nach den jüngsten Krisensitzungen weiterhin Horst Seehofer heißen wird. Die Rechtslage ist klar, die Wirklichkeit ist es nicht. Oft wird Recht gebrochen.
Geschichte Es ist richtig, dass es das Grundrecht auf Asyl gibt. Auch wegen der deutschen Geschichte, als viele deutsche Juden im Ausland Asyl suchten und oft genug nicht erhielten, ist es in die deutsche Verfassung übernommen worden. Zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes ist es schon vor dem quantitativen Hintergrund, der im Vergleich zu heute äußerst geringen Mobilität und der qualitativen Unterschiedlichkeit 1949 anders gedacht, anders verstanden und anders gelebt worden.
Unter den Menschen, die nach Europa streben, sind solche mit und solche ohne Asylgrund. Es gibt die subsidiär Schutzbedürftigen nach der Genfer Konvention, es gibt Menschen, die sich um eines besseren Lebens willen auf die in vielen Fällen tödlich endende Reise nach Europa machen. Es gibt Menschen, die beim Erreichen der EU in Spanien, in Italien, in Zypern oder in Griechenland Asyl beantragen und, noch während ihr Antrag geprüft wird, in ein anderes Land, oft Deutschland, weiterziehen. Dieses Vorgehen mag individuell verständlich sein, aber falsch bleibt falsch.
Antisemitismus Diese Zuwanderung ist problematisch. Da ist der Antisemitismus, den erschreckend viele Zuwanderer aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Nordafrika von Kindheit an erlernt haben und den niemand an der Staatsgrenze ablegt. Einerseits alarmieren alle damit befassten Stellen aufgrund dieses millionenfach ins Land kommenden Antisemitismus die Öffentlichkeit, andererseits wird verlangt, dass wir unsere Grenzen in diesem Zustand der Unkontrolliertheit, ja, der Anarchie, belassen. Das geht nicht zusammen.
Horst Seehofer hat als Innenminister eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt, wie die ungeregelte Wirklichkeit in rechtliche Bahnen gelenkt werden soll. Das tragende Prinzip des EU-Asylrechts wird außer Kraft gesetzt, wenn ein Zuwanderer sich sein EU-Asylland auszusuchen versucht, wie Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, dargelegt hat. Ziel ist eine europäische Regelung. Diese aber ist allenfalls in Umrissen erkennbar. Seit Jahren und besonders seit September 2015 wird sie gesucht, aber nicht gefunden. Zu unterschiedlich sind die Interessen der Staaten.
Fast alle Ankommenden betreten in den südlichen EU-Staaten europäischen Boden. Jeden dort bleiben zu lassen, wo er Europa betritt, wäre als EU-Lösung undenkbar; der gegenwärtige, rechtlose Zustand ist es erst recht. Eine EU-Lösung, wie sie in der Nacht zum Dienstag zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer vereinbart wurde, muss eine Zahl derer, die bleiben dürfen, eine rechtliche Einordnung, eine Verteilung der Immigrationskosten, eine Erleichterung der Integration und neben dem Fördern auch ein Fordern zur gesellschaftlichen Kompatibilität beinhalten. Dies alles ist nicht in Sicht.
Aufnahmefähigkeit Im berechtigten Interesse der Deutschen und der Juden in Deutschland liegt eine Zuwanderung, die Aufnahmefähigkeit und friedliches Miteinander der Menschen nicht überfordert. Wenn wir in Deutschland eine unbekannte, aber nach allen Untersuchungen große Zahl von Menschen haben, die nicht zuletzt dem Judentum und dem Staat Israel feindlich gegenüberstehen, dann haben wir alle ein Problem. Und zwar eines, das sich nicht mehr leicht lösen lässt.
Aber anstatt dieses Problem mit gesellschaftlichem Engagement und langfristigen Bemühungen kleiner werden zu lassen, wird es durch den unkontrollierten und tatsächlich oft rechtswidrigen Zuzug nach Deutschland größer. Die Vorschläge von Horst Seehofer und der CSU sind keine Absage an eine europäische Lösung, sondern im Gegenteil eine Notwendigkeit und die Grundlage für eine europäische Regelung.
Horst Seehofer und die CSU fordern also das Richtige. Das nationale Handeln ermöglicht eine europäische Lösung. Die EU erreicht derzeit nicht einmal in der Beurteilung von Gipfelergebnissen Übereinstimmung. Aus jüdischer Sicht ist hinzuzufügen, dass Antisemiten einschließlich derer, deren Antisemitismus im Gewand des Israelhasses daherkommt, die Einreise nach Deutschland nicht so leicht gemacht werden darf.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen, sagt Adorno. Richtig.
Der Autor ist Sprecher des Jüdischen Forums in der CSU. In diesem Beitrag vertritt er seine Position, nicht die der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, deren Geschäftsführer er ist.
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Contra – Marian Offman: Für eine Vielzahl Geflüchteter würde die Zurückweisung tragische Folgen haben
Das Wort Flucht hat für viele Menschen in der jüdischen Gemeinschaft eine besondere Bedeutung. Fast alle Jüdinnen und Juden in Deutschland haben einen Fluchthintergrund. Viele jüdische Menschen wurden in der Schoa ermordet, weil sie nicht fliehen konnten und die Grenzen vieler Länder verschlossen blieben. Eingedenk dessen gibt es in München auch Jüdinnen und Juden, die sich um Geflüchtete in den Unterkünften kümmern – um deren Ausbildung und natürlich auch um deren Bleibemöglichkeiten. Sind sie Teil einer »aggressiven Anti-Abschiebe-Industrie«, wie CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt jüngst beklagte?
Im Parteivorstand hatte die CSU beschlossen, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer Zurückweisungen an der Grenze auch ohne Zustimmung der Kanzlerin anordnen sollte, wenn beim EU-Gipfel keine »wirkungsadäquaten Ergebnisse« erreicht werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat solche Ergebnisse erreicht, auch dank des Drucks der CSU. Zuletzt haben sich beide in der Nacht auf Dienstag geeinigt.
Bundespolizei Die Frage der Abweisung bereits in anderen Staaten registrierter Flüchtlinge an unseren Grenzen aber bleibt. Für die Versachlichung der Diskussion hätte ein Anruf bei der Bundespolizei genügt. Schon jetzt werden jeden Tag sogenannte Sekundärflüchtlinge – Menschen, die bereits in einem anderen Land der EU registriert wurden – abgewiesen. Das ist Alltag bei den Grenzbehörden.
Über EURODAC wird mit Fingerabdruckdaten schnell festgestellt, ob der Asylsuchende schon jenseits der Grenze registriert wurde. Wenn ja, kommt er in Zurückweisungshaft. Dagegen kann er Haftbeschwerde einlegen; zudem kann er beim Verwaltungsgericht die Zurückweisung anfechten. Am Ende müssen die Länder der Erstregistrierung die Rückkehrer akzeptieren.
Für eine Vielzahl Geflüchteter würde die Zurückweisung tragische Folgen haben. Da ist eine Mutter mit zwei Töchtern anerkannt, denen bei Rückkehr die Zwangsbeschneidung droht. Der Vater sitzt in Zurückweisungshaft; er wurde in den Wirren der Flucht in einem anderen Land registriert als der Rest seiner Familie. Um solche Schicksale geht es, und am Ende entscheiden die Gerichte.
Rechtsstaatlichkeit Natürlich gilt noch das Dubliner Übereinkommen mit seiner klaren Zuordnung von Registrierung und Asylverfahren, aber auch unsere Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit haben Gültigkeit. Eine Zurückweisung Asylsuchender an unseren Grenzen ohne die Möglichkeiten der Einrede vor den Gerichten ist eine Verletzung der Regeln der Rechtsstaatlichkeit.
Auch in den jetzt geplanten Transitzentren muss die Rechtsstaatlichkeit gesichert sein. Insbesondere der jüdische Bevölkerungsteil ist auch auf die Beständigkeit von Rechtsstaatlichkeit in unserem Land angewiesen, gerade wenn Antisemitismus und das Erstarken der AfD alte Ängste wiederaufbrechen lassen können.
Während des Höhepunkts der Flüchtlingswelle 2015 hatte ich eine Begegnung, die ich nie vergessen werde. Ein vielleicht zwölf Jahre alter Junge kam mit einem Fünfjährigen an der Hand in den Münchner Hauptbahnhof. Wir fragten nach dem Namen seines Bruders, und er verneinte: Es sei nicht sein Bruder, er kümmere sich um ihn, nachdem die Eltern vom Schlauchboot fielen und vor seinen Augen ertranken. Ähnliche Begebenheiten wurden von Kindern nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern berichtet. War dieser Junge ein Asyltourist?
Volkspartei Meine Partei, die CSU, ist eine breit aufgestellte Volkspartei und toleriert ein weites Meinungsspektrum. Dennoch brauchen wir den Grundkonsens zu den Werten, die sich von den christlich-jüdischen Traditionen unseres Kontinents ableiten. Dazu gehört unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Wenn deren Rechtsstaatsprinzipien an unseren Grenzen nicht mehr gelten sollen, so ist dies inakzeptabel.
Ebenso wichtig ist unser eigener Anspruch an das Humanitäre. Die Infragestellung beginnt mit einer simplifizierenden Schwarz-Weiß-Rhetorik – wie etwa »Abschiebeindustrie« oder »Asyltourismus«. Unlängst hörte ich, wie ein Pegida-Redner sagte, die Juden im Nahen Osten würden die Araber nach Europa vertreiben, damit dort die von Rothschild geleitete Asylindustrie ihre Gewinne erzielen könnte.
Es stimmt mich nachdenklich, wenn die AfD-Spitzenpolitikerin Alice Weidel davon spricht, dass sie eine Koalition von AfD und CSU für möglich hält. Natürlich befürworte ich, dass auch Wähler des demokratisch-rechten Spektrums angesprochen werden, um sie für die CSU zu gewinnen. Doch wie spiegelt sich die Härte gegen die Kanzlerin, die schwierige Wortwahl gegenüber den Geflüchteten und das Abschiebethema im Wählerverhalten wider?
Wählerwanderungsanalysen zeigen, dass die CSU kurz vor den Landtagswahlen Gefahr läuft, massiv Stimmen in der bürgerlichen Mitte zu verlieren. Es wäre gut, wenn sich die CSU von dem starren Blick auf die Ergebnisse der Rechtpopulisten etwas abwendete – hin zur liberalen, konservativen Mitte.
Marian Offman ist CSU-Stadtrat, sozialpolitischer Sprecher
der Münchner CSU und im Vorstand der Israelitischen
Kultusgemeinde München und Oberbayern. Auch er vertritt hier seine private Meinung.