»Breslau, Donnerstag. Die Jüdische Rundschau gekauft. Es sieht doch so aus, als ob die Gesetze vom vorigen Sonntag eine gewisse Beruhigung im Verhältnis zwischen Deutschen und Juden brächten«, schreibt der Breslauer Historiker Willy Cohn am 19. September 1935 in sein Tagebuch. Wie viele Juden ist er zunächst überzeugt, dass die neuen Nürnberger Gesetze die spontane Gewalt gegen Juden auf der Straße eindämmen würden. »Ein fataler Irrtum in der Rückschau«, sagt Alexander Schmidt, Historiker im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.
Vor 90 Jahren, am 15. September 1935, verkündete Reichsminister Hermann Göring die Nürnberger Gesetze. Dazu gehörte das »Reichsbürgergesetz«, wonach lediglich Angehörige »deutschen und artverwandten Blutes« Anspruch auf politische Rechte haben. Das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, stellte die Eheschließung zwischen Jüdinnen und Juden und »Staatsangehörigen deutschen Blutes« sowie außerehelichen Geschlechtsverkehr unter Strafe. Nach völkisch und rassistisch motivierten Kriterien wurde im November 1935 festgelegt, wer nach NS-Definition als Jude, »Halbjude« oder »Vierteljude« galt.
Als Rechtsstaatlichkeit getarnter Judenhass
Die Gesetze waren ein entscheidender Schritt zur Ausgrenzung. In nur fünf atemberaubenden Jahren sei es den Juden geschehen, »dass sie von einem Teil der Gesellschaft zu Juden geworden waren, die auf ihre Deportation warteten«, so beschreibt es Schmidt. Juden, aber auch Sinti und Roma wurden rechtlos und finanziell ausgeplündert. Ab dem 3. Januar 1936 waren Sinti und Roma den diskriminierenden Bestimmungen der Nürnberger Gesetze unterworfen.
Die NSDAP hatte schon in ihrem Parteiprogramm von 1920 festgehalten: »Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.« Nach ihrer Machtübernahme begann der staatlich verordnete Antisemitismus mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« im April 1933. Der dabei eingeführte »Arierparagraph« diente noch hauptsächlich dem Zweck, jüdische Bürger aus dem Berufsleben zu drängen.
Was Juden im NS-Staat nach und nach nicht mehr durften, hat auch der jüdische Literaturwissenschaftler Victor Klemperer (1881 bis 1960) in seinen Tagebüchern akribisch vermerkt. Akademiker wie er verloren ihre Anstellung an Hochschulen oder als Ärzte und Rechtsanwälte, mussten das Radio abgeben, durften kein Haustier halten, keine Gegenstände aus Gold, Platin oder Edelsteine und Perlen kaufen.
»Entrechtet.Entwürdigt.Beraubt«
In einer früheren Ausstellung im Nürnberger Dokumentationszentrum mit dem Titel »Entrechtet.Entwürdigt.Beraubt« waren an der Seitenwand eines 40 Meter langen düsteren, blau beleuchteten Gangs 2.000 antisemitische Gesetze und Verordnungen aus der NS-Zeit tapeziert. Das zeigte das Ausmaß der peniblen Planmäßigkeit, das Eigentum jüdischer Bürger zwischen 1933 und 1945 an sich zu reißen und sie zu »Menschen zweiter Klasse« zu stempeln.
Besonders »katastrophal« für die Menschen war das Heiratsverbot in den Nürnberger Gesetzen, erklärte Schmidt: »Auf einmal war die eigene Ehe oder die Liebesbeziehung ’schmutzig‹.« Bei einer Scheidung wurden Juden oder Jüdinnen vogelfrei.
Die Nürnberger Gesetze seien unter hohem Zeitdruck entstanden, weil Reichskanzler und Diktator Adolf Hitler den unspektakulären »Reichsparteitag der Freiheit« in Nürnberg um einen Höhepunkt habe bereichern wollen, berichteten nach dem Ende der NS-Diktatur beteiligte Juristen. Alexander Schmidt aber hält dies für eine Legende, mit deren Hilfe sich ein Juristenapparat aus der eigenen Verstrickung an den rassistischen Gesetzen herausreden wollte.
Alliierte heben die sogenannten Nürnberger Gesetze auf
Am 20. September 1945 hob der Alliierte Kontrollrat mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 1 die sogenannten Nürnberger Gesetze und viele andere Bestimmungen der Nazis auf.
Das Hitlerdeutschland von 1935 und das Deutschland des Jahres 2025 seien in keiner Weise miteinander vergleichbar, sagt Siegfried Zelnhefer, Autor mehrerer Bücher über die Nürnberger Reichsparteitage. »Allerdings ist unsere Demokratie nicht selbstverständlich. Sie muss durch die Bürger mit Leben erfüllt werden, die Werte der liberalen Demokratie müssen verteidigt werden.« Auch Schmidt warnt: Wenn Politiker von großräumiger »Remigration« oder »Umvolkung« sprächen, sollte man sich Sorgen machen »und unsere freiheitliche und demokratische Ordnung nicht preisgeben.«