Der Wachmann in einem Kontrollraum in Irans berüchtigtem Evin-Gefängnis schreckt auf. Ein Bildschirm nach dem anderen vor ihm wird plötzlich dunkel und zeigt dann etwas völlig Anderes als die Überwachungsvideos, die er beobachtet hatte.
»Cyberangriff« blitzt es auf den Monitoren auf. Weitere Wachposten versammeln sich vor den Schirmen, halten ihre Handys hoch und filmen, manche machen Anrufe. Ein anderer Satz taucht auf den Monitoren auf - »allgemeiner Protest bis zur Freiheit politischer Gefangener«.
Ein Online-Konto, angeblich von einer Gruppe von Hackern, hat der Nachrichtenagentur AP in Dubai Filmmaterial von dem Vorfall und Teile anderer Überwachungsvideos teils mit Misshandlungsszenen aus dem Gefängnis zugespielt. Dort werden nach westlichen Erkenntnissen seit Jahren politische Gefangene eingesperrt und auch andere mit Verbindungen ins Ausland, die häufig in Verhandlungen mit dem Westen als Druckmittel benutzt werden.
Verbreitete Vermutungen gehen dahin, dass Amerikaner und Israelis dahinter steckten.
Sie wollten die schlimmen Bedingungen in dem Gefängnis an die Öffentlichkeit bringen, heißt es in einer Botschaft des Online-Kontos. »Wir wollen, dass die Welt unsere Stimme für Freiheit aller politischen Gefangenen hört.«
In einer Videoszene zertrümmert ein Mann einen Badezimmerspiegel - in dem Versuch, seinen Arm aufzuschneiden. Andere Filmabschnitte zeigen, wie Wärter Gefangene schlagen, aber es gibt auch Schlägereien zwischen Wärtern und Gefangenen untereinander. Insassen schlafen in Einzelräumen mit Dreier-Etagenbetten an den Wänden, hüllen sich in Decken, um sich warm zu halten.
Der Chef des iranischen Gefängnissystems, Mohammad Mehdi Hadschmohammadi, bestätigte am Dienstag auf Twitter indirekt die Echtheit der Videos und übernahm die Verantwortung für die »inakzeptablen Verhaltensweisen«. Zugleich versprach er, »die Wiederholung solcher bitteren Vorfälle zu vermeiden und die Täter zu konfrontieren«. Konkrete Maßnahmen nannte er aber nicht.
»Ich entschuldige mich bei Gott dem Allmächtigen, dem lieben Obersten Führer (Ajatollah Ali Chamenei), unserer großartigen Nation und den edlen Gefängnisbeamten, deren Bemühungen nicht wegen der Verfehlungen (von anderen) ignoriert werden«, schrieb Hadschmohammadi. Das staatliche Fernsehen im Iran gab seine Äußerungen wieder. Wie es weißer hieß, ordnete der Justizchef des Landes eine Untersuchung der Vorgänge im Gefängnis an.
Obwohl die Videos stumm sind, sprechen sie Bände über das grausame trostlose Leben, dem die Gefangenen ausgesetzt waren. In einer Szene wird anscheinend ein abgemagerter Mann aus einem Fahrzeug auf einem Parkplatz abgeladen, dann durch das Gefängnis geschleift. Eine andere zeigt einen Geistlichen, der eine Treppe herunter kommt und an dem Mann vorbeigeht, ohne anzuhalten. Auf einem anderen Video schlagen Wachposten auf einen Mann in Gefangenenkleidung ein. Ein Wärter versetzt in einer Zelle einem Insassen einen Boxhieb. Viele Insassen sind in Einzelzellen zusammengepfercht, niemand trägt eine Gesichtsmaske.
Die Filme zeigen unter anderem auch Reihen von Nähmaschinen, die Gefangene benutzen, und eine Einzelhaftzelle mit einer Hocktoilette. Es gibt Bilder vom Gelände für Hofgänge, von Badezimmern für die Gefangenen und Büros innerhalb der Anstalt. Viele Aufnahmen weisen Zeitstempel von 2020 auf.
Das Konto, das die Videos der AP gab, nennt sich selbst »Die Gerechtigkeit von Ali«, ein Bezug auf den von Schiiten verehrten Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Es behauptet, »Hunderte« von Gigabyte Daten zu besitzen, die angeblich von einem Hacking vor einigen Monaten stammen. Die angebliche Gruppe stellt eine Verbindung zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sie das Material leakte, und der kürzlichen Wahl des iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi her, einem Hardliner, der 1988 - am Ende des Krieges zwischen dem Iran und Irak - in die Hinrichtung Tausender Menschen involviert war.
»Das Evin-Gefängnis ist ein Schandfleck auf Raisis schwarzem Turban und weißem Bart«, hieß es in einer der Botschaften, die auf den Bildschirmen im Gefängnis-Kontrollraum auftauchten.
Der Iran ist seit Langem mit westlichen Sanktionen konfrontiert und hat Probleme mit der Beschaffung moderner Hardware und Software. Oft werden chinesische Elektronik oder ältere Systeme benutzt. Jene im Evin-Kontrollraum, wie sie in den Videos zu sehen sind, scheinen sich beispielsweise auf Windows 7 zu stützen, für das Microsoft keine Patches - nachträglichen Korrekturen - mehr liefert. Das könnte Hackern ihre Arbeit erleichtert haben.
In den vergangenen Monaten ist es offenbar auch zu einer Cyberattacke gegen das iranische Eisenbahn-System gekommen. Es gibt zudem Berichte über Iraner, die angeblich im Auftrag der Theokratie Hacking-Aktionen vornehmen. Der berühmteste Cyberangriff war das Stuxnet-Virus, das vor dem Hintergrund westlicher Besorgnisse über Teherans Nuklearprogramm Zentrifugen sabotierte. Verbreitete Vermutungen gehen dahin, dass Amerikaner und Israelis dahinter steckten.
Das Evin-Gefängnis entstand 1971 unter Schah Mohammad Reza Pahlavi. Damals wie auch später, nach der Entmachtung des Schahs im Zuge der Islamischen Revolution von 1979, wurden darin politische Gefangene eingesperrt. Als der Iran in Folge der umstrittenen Wiederwahl von Hardline-Präsident Mahmud Ahmadinedschad 2009 gegen Demonstranten durchgriff, landeten viele der Festgenommenen in Evin. Nach Berichten über Misshandlungen im Gefängnis drangen Parlamentarier auf Reformen, was zur Installation der Überwachungskameras führte.
Aber es gab weiter Probleme. Der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Iran, Javaid Rehman, hat Evin in seinen Übersichten wiederholt als Ort der Misshandlung von Gefangenen angeführt. Im Januar prangerte er Überfüllung und Hygiene-Mängel in Irans gesamtem Gefängnissystem an - und die »unüberwindbaren Hindernisse« dort bei der Bekämpfung von Corona. ap