Der historische Prozess, der erstmals zum unerfreulichen Einzug einer Rechtsaußenpartei führte, begann lange vor Gründung der AfD. Wer ihn versteht, wird vom AfD-Erfolg nicht überrascht sein und kann gegensteuern. Noch ist Deutschland nicht verloren. Neu-Rechtsaußen (und überwiegend eben nicht Alt-NS-Rechts) ist im Parlament, doch nicht an der Macht, und das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Den Aufstieg der Neurechten haben ihre Gegner durch falsches Denken und Sprechen mitverschuldet.
Hochkonjunktur bekam und behielt die »Nazi-Keule« seit 1968. Wer nicht im links-zentristischen Zeitstrom schwamm, war »Nazi«. Immer und überall schwimmen die meisten Menschen im Zeitstrom, aber eben nicht alle, und nicht alle dieser Nichtschwimmer waren oder sind »Nazis«. Diese Binsenweisheit, lies: Dummheit, hatte Folgen. Die echten Nazis, alt und neu (und, ja, es gibt sie), fanden in der Masse der angeblichen Nazis sozusagen Unterschlupf. Man kann es so sagen: Viele Alt- und Neu-Nazis wählen AfD, aber nicht alle AfD-Wähler sind Nazis. Diese Aussage-Gewichtung ist mit einem anderen, oft gehörten Satz vergleichbar: Die meisten Terroristen sind Muslime, doch nicht alle Muslime sind Terroristen.
Antisemitismusvorwurf Jenes Politdeutsch und -denken führte dazu, dass kaum noch jemand den Nazi- oder Antisemitismusvorwurf ernst nimmt. Er wurde stumpf, weil inflationär. Noch viel schlimmer: Er verharmloste nachträglich den massenmörderischen Nazismus/Faschismus und stempelte politisch nicht links oder liberal positionierte, doch mehr oder weniger konservative, besonders vom (nicht zuletzt antijüdischen) Islamismus verängstigte oder unzufriedene Mitbürger zu Scheinnazis.
Viel schwerwiegender als die genannten taktischen Fehler mit strategischer Wirkung ist der fundamentale gesellschaftliche Wandel beziehungsweise die demografische Revolution, die sich in Deutschland und Westeuropa seit 1945/47 (Entkolonialisierung), 1961 (Mauerbau und Zuzug türkischer »Gastarbeiter«), 1991–1999 (Balkankriege) und dramatisch beschleunigt seit 2014/15 (arabisch-islamische Kriege) vollzieht. Diese demografische Revolution trieb allmählich und vor allem jüngst der Neurechten Wählermassen in die Arme.
Viele Alteinheimische reagieren kopflos, hysterisch und des Islam-Terrors wegen verängstigt. Das, und eben nicht NS-Nostalgie, ist die gegenwartsbezogene, entscheidende Quelle für Neurechtes. Das ist alles andere als erfreulich, doch neu und nicht alt. Jene Revolution ist noch lange nicht zu Ende. Davon wird die Neurechte weiter profitieren, wenn, wie bisher, Integration zu oft nur aus wohlmeinenden Phrasen besteht.
alteinheimische Man kann Waren importieren und Menschen. Anders als Waren sind Menschen Lebewesen mit eigenen Wünschen und Sorgen, die nicht immer deckungsgleich mit den Wünschen und Sorgen der Alteinheimischen sind. Wir kennen das aus dem »Import« von Juden im Laufe von 3000 Jahren. Sobald sie nicht mehr gebraucht wurden, galt: »Der Mohr (hier: Jude) hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Weder sprachliche noch kulturelle Anpassung oder gar enorme wirtschaftliche Beiträge halfen den Juden. Sie wurden vertrieben oder vernichtet. Sie ließen es mit sich geschehen.
Ganz anders zumindest der militante Teil der muslimischen Migranten. Angst geht um, zumal innerislamische Konflikte und Konflikte der islamischen Welt mit dem Westen in den Westen importiert wurden. Terror heißt das Stichwort, und diesen fürchten mehr als zwölf Prozent AfD-Wähler, denn Deutschland und Westeuropa sind Nebenschauplätze der Konflikte in und um Nahost.
Das alles sind neue, echte Probleme. Neue Wirklichkeiten kann man nicht mit altem Denken und alten Begriffen wie »Nazi« erfassen. Falsche Diagnosen führen immer zu falschen Therapien. AfD und andere Neurechte bieten weder Diagnose noch Therapie. Die traditionellen Parlamentsparteien sind gefordert. Noch haben sie nicht verloren.
abspaltung Wie geht es weiter? Der eine, größere Teil der Neuen Rechten wird, wie seit 1968 die Neue Linke, durchs Parlament gezähmt und möglicherweise sogar Koalitionspartner. Ausgeschlossen? In Österreich umwerben selbst Sozialdemokraten die Neue Rechte. Der kleinere, extreme(re) Teil der Neuen Rechten wird sich vom gezähmten abspalten. Oder umgekehrt der gemäßigte vom extremistischen.
Als eskalierende Antwort auf ihre allgemeine Randstellung sowie besonders die Neue Rechte werden die meist muslimischen Migranten in Deutschland und Westeuropa (wie in den Niederlanden und Nordrhein-Westfalen) über kurz oder lang eine eigene Partei gründen. Sie wird ins Parlament ziehen und sich irgendwann ebenfalls in Gemäßigte und Extremisten spalten, denn Terroristen meiden Parlamente. Islamisten und neurechte Extremisten werden sich gegenseitig hochschaukeln. Unruhige Zeiten stehen uns bevor. Mit alten Denkmustern werden wir die neue Situation nicht meistern. Juden sind weder die einen noch die anderen wohlgesonnen.
Der Autor ist Historiker und Publizist. Zuletzt vom ihm erschienen: »Deutschjüdische Glückskinder. Eine Weltgeschichte meiner Familie«, »Wem gehört das Heilige Land?«, »Zum Weltfrieden«. In »Zivilcourage« beschreibt er ausführlich die hier skizzierte demografische Revolution.