Gedenkstunde im Bundestag

»Gegen den alten Ungeist in neuer Zeit«

Der Bundestag gedachte am Mittwoch der Opfer des Nationalsozialismus. Anlass war der 75. Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945.

»Wir müssen über Auschwitz sprechen, über das, wofür es eigentlich keine Worte gibt«, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu Beginn der Gedenkstunde. Auschwitz erinnere daran, wie verführbar Menschen sind, wie angreifbar das ethisches Fundament ist. Gegen den immer noch existierenden Antisemitismus und Rassismus helfe nur ein konsequent handelnder Staat – und eine couragierte Zivilgesellschaft, die verstanden hat, dass das Geschehene nicht vergangen ist.

Rede In seine Gedenkrede dankte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin dafür, dass er vor wenigen Tagen in Yad Vashem das Wort ergreifen und an seiner Seite sein durfte, als in Auschwitz der Befreiung gedacht wurde.

»Dass ein israelischer Präsident die schmerzhaften Schritte der Erinnerung gemeinsam mit einem Deutschen geht, dass ein israelischer Präsident an diesem Tag in diesem Hause spricht, im Herzen unserer Republik, das erfüllt mich mit tiefer Demut«, sagte Steinmeier.

Vergangenheit Steinmeier warnte vor der Rückkehr autoritären Denkens in Deutschland und rief zum entschiedenen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus auf. »Erheben wir uns gegen den alten Ungeist in der neuen Zeit«, sagte er. »Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand«, warnte der Bundespräsident.

Sie präsentierten ihr völkisches, autoritäres Denken als Vision, als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit. »Ich fürchte, darauf waren wir nicht vorbereitet – aber genau daran prüft uns unsere Zeit. Und diese Prüfung müssen wir bestehen. Das sind wir der Verantwortung vor der Geschichte, den Opfern und auch den Überlebenden schuldig.«

Rivlin, der seine Rede mit dem Jiskor-Gebet begann, sprach von der »Verpflichtung, nicht zu vergessen«. Auch er rief zum gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus und Hass auf. »Rassismus, Nationalismus und Kriegstreiben dürfen sich nicht wiederholen«, sagte er. Europa werde heute von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht, warnte Rivlin und nannte Nationalismus, Fremdenhass und einen hässlichen und extremen Antisemitismus.

Leuchtturm Die ständige Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Holocaust habe es möglich gemacht, ein neues Kapitel aufzuschlagen, so Rivlin. Deutschland sei mit seiner Geschichte des Schreckens ein Leuchtturm für Verantwortung und moderate Kräfte geworden. »Die Verantwortung, die auf den Schultern Deutschlands lastet, ist enorm», sagte er laut Übersetzung. Der Kampf gegen Antisemitismus müsse hartnäckig, Generation um Generation, weitergeführt werden. »Wir dürfen nicht nachlassen. Deutschland darf hier nicht versagen«, sagte er.

In seiner Rede erwähnte er auch Mitglieder der Familien Goldin und Shaul, die mit nach Berlin gekommen waren. Sie kämpfen dafür, dass die sterblichen Überreste von Hadar Goldin und Oron Shaul, zwei israelische Soldaten, die 2014 im Gazastreifen ums Leben kamen, endlich von der Hamas freigegeben werden. Rivlin bat Deutschland und die internationale Gemeinschaft dabei um Unterstützung.

Rivlin hielt als vierter israelischer Präsident nach Ezer Weizman, Mosche Katzav und Shimon Peres eine Rede vor dem Bundestag. Das Parlament begeht den Gedenktag jedes Jahr mit einer Feierstunde, an der höchste Repräsentanten des Staates – Bundeskanzlerin Merkel, Bundesratspräsident Woidke und Bundesverfassungsgerichtspräsident Voßkuhle – teilnehmen. Das gesamte Kabinett war vertreten, der Plenarsaal voll besetzt.

Ehrengäste Auf der Ehrentribüne des Bundestages verfolgten zahlreiche Gäste die Gedenkstunde, darunter Überlebende der Schoa, wie Margot Friedländer und Leon Schwarzbaum, sowie Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland, des Jüdischen Weltkongresses und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Zentralratspräsident Josef Schuster sagte der Jüdischen Allgemeinen im Anschluss, dass ihn die Gedenkreden beeindruckt hätten. Steinmeier habe sich nochmals im Tonfall seiner Rede in Yad Vashem kritisch in Bezug auf die aktuelle politische Situation in der Bundesrepublik geäußert. »Das ist eine wichtige Aussage und nicht selbstverständlich für ein Staatsoberhaupt«, so Schuster. Bei Rivlins Rede sei besonders der Hinweis auf die Verantwortung Deutschlands hervorzuheben, darauf, dass die Welt darauf schaue, wie das Land den Antisemitismus bekämpfe.

Vor der Gedenkstunde hatte Bundestagspräsident Schäuble eine Ausstellung mit Illustrationen des Auschwitz-Überlebenden David Olère in der Halle des Paul-Löbe-Hauses des Bundestages eröffnet.

Am Nachmittag schloss sich eine Podiumsdiskussion an, bei der er gemeinsam mit Bundespräsident Steinmeier und Israels Präsident Rivlin mit Jugendlichen zusammentraf, die an einer Jugendbegegnung in Auschwitz und Berlin teilnehmen. ddk/dpa

Diskussion

»Die kommenden vier Jahre sind entscheidend«

Im neuen Talkformat »Tachles Pur« analysierten vier Hauptstadtjournalisten Positionen der Parteien und ihrer Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl

von Ralf Balke  11.02.2025

Berlin

Gedenkort für früheres jüdisches Altenheim gefordert

Die Einrichtung stand dort, wo sich heute das Haus der Statistik befindet

 11.02.2025

Madrid

Der Likud bandelt mit den »Patrioten für Europa« an

Die Netanjahu-Partei erhält bei der rechten europäischen Sammlungsbewegung Beobachterstatus, FPÖ-Chef Kickl jubelt über das Ende der »internationalen Isolation«

von Michael Thaidigsmann  11.02.2025

Leer/Hamburg/Berlin

Trotz Steinmeier-Appell: Schoa-Überlebender gibt Orden zurück

Albrecht Weinberg wird sein Bundesverdienstkreuz zurückschicken – aus Protest gegen das Vorgehen der CDU im Bundestag. Weder der Bundespräsident, noch der CDU-Chef konnten ihn offenbar umstimmen

 11.02.2025

Meinung

Kanye West und der grassierende Antisemitismus in den USA

Die neuesten judenfeindlichen Eskapaden des Rapstars sind symptomatisch für eine bedrohliche Diskursverschiebung, die von Donald Trump und Elon Musk befeuert wird

von Ruben Gerczikow  10.02.2025

FU Berlin

Francesca Albanese soll an der FU Berlin sprechen

Nach der Absage an der LMU München soll die UN-Sonderbeauftragte nun in der Hauptstadt sprechen

 10.02.2025

München

»Die AfD ist die stärkste Bedrohung für jüdische Menschen in Deutschland«

Charlotte Knobloch äußert sich zum Vorgehen der Union Woche im Bundestag. Die AfD hatte zusammen mit CSU/CSU und FDP für eine Verschärfung des Asylrechts gestimmt

von Imanuel Marcus  10.02.2025

Interview

»Es gab keine Zusammenarbeit mit der AfD«

Der CDU/CSU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz über die Brandmauer zur AfD, den Schutz jüdischen Lebens und die besondere deutsche Verantwortung gegenüber Israel

von Joshua Schultheis, Philipp Peyman Engel, Tobias Kühn  10.02.2025

Meinung

Da kann man sich gleich Björn Höcke einladen

UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese hätte an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität sprechen sollen. Dabei hat sie sich für den akademischen Diskurs disqualifiziert

von Ralf Balke  10.02.2025