Meinung

Freuds Beispiel, mein Fehler

Für meine Artikel, etwa in der Süddeutschen Zeitung, dass Beschneidungen nicht harmlos seien und die Befürworter dieses religiösen Rituals sich nur Vorwänden bedienten, habe ich fast gegen meine Erwartung mehr anerkennende als kritische Reaktionen bekommen. Ich hatte mich vor Jahren in einem Buch über sexuelle Traumatisierungen gründlicher mit dem Thema befasst und war empört, wie selbstgewiss und oberflächlich manche Aussagen daherkamen. Freilich eine Verführung, auch selbstgerecht zu werden.

Bewegt hat mich der Brief eines befreundeten Juden, eines jungen Vaters, der meine Aussagen verletzend empfand und sie gegen seine Kultur und Religion gerichtet sah. Ich erinnerte mich, wie wir auf einem Gartenfest zusammen auf einer Decke saßen und sein Sohn mit meinem Enkel spielte. Die Kränkung, die eine allgemeine Analyse im Einzelfall anrichten kann, wurde in dieser Erinnerung konkret und machte mir zu schaffen.

Psychoanalyse Angesichts dessen, was Deutschland den Juden angetan hat, war es naiv von mir, mich allein an dem von mir verehrten Sigmund Freud zu orientieren, der seine Söhne nicht beschneiden ließ. Freud hat den Brauch als symbolische Kastration gedeutet, wie ich das auch vertreten habe. Auch der Gedanke von einer Weitergabe solcher Bräuche durch Identifizierung mit dem Aggressor greift ein klassisches Modell der Psychoanalyse auf, das Anna Freud formuliert hat. Ich hatte argumentiert, als sei Freuds Religionskritik jüdisches Allgemeingut. Dabei sollte es sich ein Deutscher besonders genau überlegen, was er zu jüdischen Ritualen sagt.

Der deutsche Angriff auf die Juden hat weitgehend zerstört, was in der Aufbruchsstimmung von 1890 noch möglich war: Freuds Vision einer Gesellschaft, die auf irrationale Einflussnahme verzichtet, ehe Kinder mit gereifter Intelligenz selbst entscheiden können, wie sie leben und was sie glauben wollen.

Inzwischen bin ich überzeugt, dass Argumente in dieser Frage umfassender und vorsichtiger zugleich sein sollten. Aus psychohygienischer Sicht müssen wir abwägen, was dem Wohl des Kindes dient. Eltern, die glauben, Gutes und Richtiges getan zu haben, sollte man nur mit Zurückhaltung und Takt Einwände zumuten.

Die Beschneidung als Ritual ohne Wiederkehr ist sicher etwas Besonderes. Aber in meiner jetzt sorgfältigeren Güterabwägung wäre der verletzte Säugling in einer sich sicher und geborgen fühlenden Familie gegen den intakten Säugling verunsicherter Eltern zu denken. Es gilt also, geduldig nach dem kleineren Übel zu suchen und zu tun, was möglich ist, um jüdischen Eltern zu vermitteln, dass Deutschland für sie ein sicherer Ort ist.

Der Autor ist Psychoanalytiker und Publizist in München.

Brüssel

»Gegen EU-Grundwerte«: Kommission verurteilt Festival

Eine Sprecherin der Europäischen Kommission hat den Boykott der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani in die Nähe von Antisemitismus gerückt und scharf verurteilt

von Michael Thaidigsmann  12.09.2025

Belgien

»Ruf unseres Landes beschmutzt«: Premier rügt Gent-Festival

Premier Bart de Wever kritisiert die Leiter eines belgischen Festivals dafür, die Münchner Philharmoniker und ihren Dirigent Lahav Shani ausgeladen zu haben

 12.09.2025

Berlin

Humboldt-Universität will gegen Antisemitismus vorgehen

Präsidentin Julia von Blumenthal sieht ihre Hochschule für künftige Auseinandersetzungen rund um den Nahost-Konflikt gut vorbereitet

von Lukas Philippi  12.09.2025

Gaza

Die Genozid-Lüge

Wie die Hamas nach dem 7. Oktober vom Täter zum Opfer wurde – und Israel zur Verkörperung des Bösen schlechthin

von Stephan Lehnstaedt  12.09.2025

Nachkriegsjustiz

Verhandlung über Massenmord: Vor 80 Jahren begann der Belsen-Prozess

Fünf Monate nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen erhob ein britisches Militärgericht in Lüneburg Anklage gegen die Täter. In einer Turnhalle begann damit vor 80 Jahren der erste große NS-Kriegsverbrecherprozess in Deutschland

von Karen Miether  12.09.2025

Belgien

Deutsche Botschaft beendet Partnerschaft mit Gent-Festival

Die Deutsche Botschaft in Brüssel hat nach der Ausladung der Münchner Philharmoniker ihre Zusammenarbeit mit dem Flandern-Festival in Gent eingestellt

von Michael Thaidigsmann  11.09.2025

Debatte

Zentralrat nennt Ausladung Shanis »fatales Signal«

Wer einen Künstler aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder seiner jüdischen Religion ausgrenzt und diskreditiert, trete die Demokratie mit Füßen

 11.09.2025

Berlin

Soziale Medien: »TikTok-Intifada« und andere Probleme

Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigt sich auf einer Fachtagung mit Hass im Netz: »Digitale Brücken, digitale Brüche: Dialog in Krisenzeiten«

 11.09.2025

Urteil

Bundesgerichtshof bestätigt Geldstrafen gegen Höcke

Das Landgericht Halle habe in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass der AfD-Politiker die verbotene SA-Parole »Alles für Deutschland« und »Alles für« gerufen hat

 11.09.2025