Interview

»Ein sensibles Projekt«

Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse über Vertreibungen und deutsches Erinnern

 02.11.2010 13:00 Uhr

Wolfgang Thierse (SPD) Foto: spd

Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse über Vertreibungen und deutsches Erinnern

 02.11.2010 13:00 Uhr

Herr Thierse, vergangene Woche hat der Rat der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« seine Arbeit aufgenommen. Was halten Sie von dem neuen Eckpunktepapier für die geplante Dauerausstellung?
Endlich liegt etwas vor, über das die Öffentlichkeit debattieren kann. Das ist ein Fortschritt. Aber natürlich muss daran noch viel geändert werden.

Kritiker werfen dem Papier vor, es wolle die Deutschen von ihrer Schuld am Zweiten Weltkrieg und an den Vertreibungen reinwaschen. Ist der Vorwurf berechtigt?
Nein. Man kann manches daran kritisieren, doch stellt das Papier klar Ursachen- und Wirkungszusammenhänge her: Die Nazi-Verbrechen, die Vertreibung und Ermordung der Juden sind die große Katastrophe, die Deutsch land verursacht hat. Erst in deren Folge gab es Vertreibungen von Deutschen. An dieser Kausalität gibt es keinen Zweifel. Wer das infrage stellt, hat bei dem Projekt nichts zu suchen.

Der Zentralrat der Juden kritisiert, dass die Vertreibung der Juden in dem Konzept nicht ausreichend gewürdigt werde.
Darüber wird man reden müssen! Es ist eine durchaus schwierige Aufgabe, wie man das Außerordentliche des Holocaust nicht relativiert und es zugleich in den Zusammenhang der Vertreibungen bringt. Dieser Aufgabe muss sich das Projekt stellen.

Fast ein Drittel der aktiven Mitglieder des Stiftungsrates stellt der Bund der Vertriebenen (BdV). Manche sehen in der Stiftung dessen verlängerten Arm.
Das darf nicht sein, und es ist hoffentlich auch nicht so. Selbst der Bund der Vertriebenen und sogar Frau Steinbach müssen endgültig begreifen, dass das Erinnern an die Vertreibungen Sache der Bundesrepublik Deutschland insgesamt geworden ist. Der BdV hat keinen Monopolanspruch darauf.

Der Zentralrat wirft zwei BdV-Vertretern »revanchistische Positionen« vor. Sollte über die Zusammensetzung des Rates noch einmal nachgedacht werden?
Ich teile die Kritik an diesen beiden Personen. Aber sie sind lediglich stellvertretende Mitglieder. Wer weiß, ob sie jemals an einer Sitzung teilnehmen werden. Ich plädiere dafür, die Arbeit der Stiftung konstruktiv anzugehen und sich nicht stören zu lassen durch problematische Personen, deren Aussagen innerhalb des Stiftungsrates keinerlei Echo finden.

Kann der endlose Streit um die Stiftung ein Indiz dafür sein, dass es für ein solches Versöhnungsprojekt vielleicht ein paar Jahrzehnte zu früh ist?
Das glaube ich nicht. Auch dem Berliner Holocaust-Mahnmal ging ein jahrelanger Streit voraus. Das gehört zu einem solch sensiblen geschichtspolitischen Projekt. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Da kann keiner seine Auffassung diktieren, sondern man muss miteinander im demokratischen Diskurs unter wesentlicher Beteiligung der Wissenschaftler entscheiden, in welcher Weise wir unserer Geschichte gedenken.

Das Gespräch führte Tobias Kühn.

Umfrage

Studie: Für die meisten muslimischen Schüler ist der Koran wichtiger als deutsche Gesetze

Fast die Hälfte der Befragten will einen islamischen Gottesstaat

 22.04.2024

Vereinte Nationen

»Whitewash«: UNRWA-Prüfbericht vorgelegt

Eine Untersuchung sollte die schweren Vorwürfe gegen das UN-Hilfswerk aufklären - vorab sickerten erste Details durch

von Michael Thaidigsmann  22.04.2024

Berlin

Ausstellung will Leben in Geiselhaft simulieren

In der Fasanenstraße werden in einem Container die Bedingungen der Geiseln in Gaza simuliert

von Pascal Beck  22.04.2024

Rechtsextremismus

»Höckes Sprachgebrauch ist ein klarer Angriff - und erfolgreich«

Der Soziologe Andreas Kemper zu Strategien des AfD-Politikers

von Nils Sandrisser  22.04.2024

Frankreich

Französischer Bürgermeister zeigt Hitlergruß - Rücktrittsforderungen

Die Präfektur Val-de-Marne will die Justiz einschalten

 22.04.2024

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Österreich

Vier Deutsche nach Gedenkbesuch bei Hitlers Geburtshaus angezeigt

Die Verdächtigen waren nach Braunau gefahren, um dort weiße Rosen niederzulegen

 22.04.2024

Berlin

Große KZ-Gedenkstätten gegen Schüler-Pflichtbesuche

Die Unionsfraktion hatte sich dafür ausgesprochen

 22.04.2024

Meinung

Erinnert euch an Ägypten

Nur eine Handvoll Mitglieder zählen die Gemeinden in Kairo und Alexandria heute. Jedoch haben die wenigsten Juden ihre Heimat aus religiöser Sehnsucht verlassen – sie wurden gewaltvoll vertrieben

von Mascha Malburg  22.04.2024