Interview

»Ein Problem der Gesamtgesellschaft«

Barbara Traub und Michael Blume: Gespräch im Stuttgarter Gemeindezentrum Foto: Edgar Layer

Frau Traub, seit vier Monaten hat Baden-Württemberg einen Antisemitismusbeauftragten. Sie haben gesagt, die Einrichtung dieser Stelle mache Mut. Wie war das gemeint?
Traub:
Der Anstoß zur Einrichtung einer solchen Position kam von der jüdischen Gemeinde im Gespräch mit dem Ministerpräsidenten. Was Mut macht, ist, dass die Landesregierung diesen Gedanken so schnell aufgegriffen und umgesetzt hat. Die Gemeindemitglieder waren durch antisemitische Vorfälle sehr verunsichert. Durch die Schaffung einer solchen Position wurde ihnen deutlich, dass man die Ängste ernst nimmt. Ich denke, es ist sehr wichtig, das Problem bundesweit anzugehen, aber auch vor Ort zu wirken und hier den Antisemitismus zu bekämpfen.

Herr Blume, das Kabinett hat Sie im März benannt. Welche Erfahrungen haben Sie seitdem im neuen Amt gemacht?
Blume:
Ich habe in der praktischen Arbeit recht schnell gemerkt, dass es ein größeres und komplexeres Thema und Aufgabenfeld ist als angenommen. Es ist deutlich mehr als nur eine Beschwerdestelle, hier geht es viel um Konzeptionelles. Ich habe zwei Mitarbeiter. Wenn wir den Kampf gegen Antisemitismus wirklich ernst nehmen, dann ist viel Arbeit in den Bereichen Bildung, innere Sicherheit, Integration, Soziales und Jugendarbeit zu erledigen. Das sind alles landespolitische Themen.

Doch nicht alle Bundesländer haben bereits einen Antisemitismusbeauftragten.
Blume:
Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn andere Landesregierungen sagen, sie bräuchten das nicht. Letztlich sollten wir abgestimmt arbeiten können, statt nur kluge Ratschläge von der Bundesebene zu bewerten. Wenn wir in den Ländern Ansprechpartner haben, dann können wir auch in der Breite für Menschen da sein, die Hilfe brauchen: Mobbing-Opfer oder Lehrer zum Beispiel.

»Die Zeit« hat zum Amtsantritt des Antisemitismusbeauftragten des Bundes, Felix Klein, gefragt: Was kann dieser Mann gegen Judenfeindlichkeit tun? Wie würden Sie diese Frage für sich beantworten?
Blume:
Als Religionswissenschaftler würde ich sagen, dass wir das Thema Antisemitismus viel genauer ansehen müssen, als das bisher geschehen ist. Es geht nicht nur um Ressentiments gegen eine religiöse Gruppe, Antisemitismus ist immer verbunden mit Verschwörungsglauben. Und er ist eine Absage an den gesamten Staat, an die rechtsstaatliche Gesellschaft. Ich war im Nordirak, habe dort ein humanitäres Projekt geleitet. Dort gibt es keine Juden mehr, aber der Antisemitismus ist noch da und zerstört die Gesellschaft, weil jede Gruppe der anderen vorwirft, Teil der jüdischen Weltverschwörung zu sein. Antisemitismus ist auch dann gefährlich, wenn es gar keine Juden gibt.

Aber nochmals: Was kann ein einzelner Beamter gegen dieses Phänomen tun?
Blume:
Ein einzelner Beamter, der die Leute beruhigt oder Meldungen in den Medien platziert, macht wirklich keinen Sinn. Nein, es geht um die harte Arbeit in den Städten, den Schulen, in Unternehmen, in der Wissenschaft. Wenn man glaubt, das sei alleine von Berlin aus zu erledigen, dann hat man die Tragweite des Themas nicht erfasst. Denn Antisemitismus ist der Hass auf Juden, aber auch ein Misstrauensvotum gegen die gesamte Gesellschaft. Es geht um das Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, um Kommunal- und Landespolitik.

Frau Traub, wie deutlich spüren Sie und Ihre Gemeinde den Antisemitismus?
Traub:
Sehr deutlich. Es gibt immer mehr Vorfälle. In den vergangenen zwei Jahren haben wir einen deutlichen Anstieg verzeichnen müssen. Ein ganz aktuelles Beispiel ist die Schändung des Friedhofs Hoppenlau. Das ist ein ganz alter Friedhof mitten in Stuttgart, eine offene Anlage. Es ist der einzige Friedhof, den jeder besuchen und besichtigen kann. Da sieht man deutlich, dass diese und andere antisemitische Taten auch ein Anschlag auf eine offene, demokratische Gesellschaft sind.

Gerade jetzt wurde der Synagogenvorplatz in Stuttgart neu gestaltet und gesagt, dass sich die Gemeinde damit weiter öffnen möchte. Müssen Sie umdenken?
Traub:
Das Tor möge immer offen stehen. Aber wenn wir auch hier antisemitische Angriffe erleben, dann müssen wir es schließen. Das bedeutet nicht nur Einschränkungen für die Gemeinde. Das bedeutet auch, dass die restliche Gemeinschaft keinen Zugang mehr zur jüdischen Gemeinde hat. Und das finde ich fast noch gefährlicher. Deshalb arbeiten wir auch gemeinsam daran, die Offenheit, die wir uns in den letzten 20 Jahren als jüdische Gemeinde, als Teil der Stadt, Kommune und des Landes erarbeitet haben, beizubehalten.
Blume: Das kann ich nur unterstützen. Man fragt mich gelegentlich, warum ich mich für rund 9200 jüdische Gemeindemitglieder in Baden-Württemberg engagiere. Darauf sage ich immer, dass wir das für alle elf Millionen Einwohner unseres Bundeslandes tun. Ein Antisemit wird in der Regel auch die freien Medien, die demokratischen Parteien, die Justiz, die ganze Existenz der Bundesrepublik attackieren. Es ist ein Problem der gesamten Gesellschaft, das auf Juden projiziert wird. Deswegen bin ich dankbar, dass wir gemeinsam daran arbeiten können. Aber wir sollten den jüdischen Gemeinden die Möglichkeit geben, sich in Ruhe und Frieden zu entwickeln, statt sie die ganze Zeit mit immer neuen Anforderungen zu überziehen.
Traub: Über viele Jahre waren die jüdischen Gemeinden der Ort, an dem man vor Antisemitismus gewarnt hat. Wir sehen uns heute mehr in der Rolle, jüdisches Leben zu pflegen. Wir haben hier eine Kita, Grundschule, betreutes Wohnen für Ältere. Selbstverständlich betrifft uns das Thema Antisemitismus direkt. Aber es ist eben ein Thema der gesamten Gesellschaft, nicht nur der jüdischen Gemeinschaft. Deswegen ist es so wichtig, dass es dafür jetzt einen Beauftragten gibt.

Im Moment wird die Forderung nach einer bundesweiten Erfassung von antisemitischen Delikten diskutiert. Wie stehen Sie dazu?
Traub:
Auch ich bin der Meinung, dass wir schnell ein Erfassungssystem brauchen. Es gibt immer wieder Vorkommnisse, die unsere Gemeindemitglieder verunsichern, die wir zwar zur Kenntnis nehmen, aber die von keiner Stelle registriert oder nachhaltig untersucht werden.
Blume: Es zeigt sich, dass wir deutschlandweit deutliche Unterschiede haben. Bei antisemitischen Straftaten haben wir in Baden-Württemberg zuletzt einen erheblichen Rückgang verzeichnen können. Aber es gibt viele Delikte unter der Strafbarkeitsgrenze. Und wir nehmen eine deutliche Zunahme von Antisemitismus im Internet wahr.

Wie sieht es in Schulen aus, sind Ihnen konkrete Fälle von Mobbing in Württemberg bekannt?
Traub:
Ja. Und häufig erfahren wir auch, dass sich Schüler nicht als Juden zu erkennen geben wollen. Wir merken das daran, dass sich Schüler nicht zum Religionsunterricht anmelden, damit ihr Jüdischsein nicht auf dem Zeugnis dokumentiert wird.
Blume: Wir haben eine Meldepflicht in Schulen eingeführt. Religiöses und ethnisches Mobbing muss uns gemeldet werden. Für Schulleiter ist das ein unangenehmes Thema, keiner will seine Einrichtung in schlechtem Licht erscheinen lassen. Aber die Meldepflicht hat auch die Funktion, dass sie erst einmal den Druck aus der Frage nimmt, ob man solche Vorkommnisse überhaupt melden sollte. Überhaupt sind die Institutionen tendenziell schlecht vorbereitet. Deshalb sind Fortbildungen für Lehrer, Schulleiter, Polizisten, leitende Verwaltungsmitarbeiter und andere so wichtig. Bis sich das durchgesetzt hat, liegt eine Menge Arbeit vor uns.

Wie schwierig gestaltet sich denn die Arbeit in den Ins­titutionen?
Blume:
Ich habe bereits die Erfahrung gemacht, dass geblockt wird. Man meint, es gebe keinen Gesprächsbedarf, es gebe in der jeweiligen Institution auch keinen Antisemitismus. Zuletzt ist mir sogar in einem großen Ministerium ein Gesprächswunsch abgeschlagen worden.

Wie können Sie darauf reagieren?
Blume:
Ich berichte dem Ministerpräsidenten und dem Landtag. Ich werde auch darüber berichten, wenn einzelne Ministerien meinen, das sei nur lästig und das Thema gehe sie nichts an. Es ist so, dass ich in Besprechungen erlebe, dass manche Teilnehmer mit verschränkten Armen dasitzen. Es ist eine Verunsicherung, eine gewisse Überforderung. Dann reagiert man so, wie man es im Öffentlichen Dienst bei Verunsicherung und Überforderung gelernt hat: Man macht die Schotten dicht und leugnet, dass es das Problem gibt. Man möchte auch nicht, dass die eigene Institution in schlechtem Licht dasteht – unabhängig davon, ob es ein Ministerium, eine Polizeidienststelle oder eine Schule ist. Selbstverständlich haben wir auch Probleme mit Antisemitismus in Lehrerzimmern. Da ist es kein rechter, sondern häufig ein linker Antisemitismus. Es ist unglaublich schwierig, darüber zu sprechen.

Manche meinen, dass auch der Antisemitismus unter Muslimen lange nicht thematisiert wurde. Ist dieser Eindruck zutreffend?
Traub:
Ich bin immer sehr vorsichtig, wenn es zum Beispiel darum geht, alle arabischen Flüchtlinge unter Kollektivverdacht zu stellen. Wer aus dem arabischen Raum kommt, muss kein Antisemit sein, auch wenn Judenhass in Schulbüchern gelehrt wird und gesellschaftlich weit verbreitet ist. Ich glaube, die Schwierigkeit ist, dass ich einen arabischen Flüchtling sehr schnell erkennen kann, den normalen antisemitischen Durchschnittsbürger nicht. Die Angst durch die relativ große Zahl der Flüchtlinge ist in den Köpfen. Ich glaube, es gibt in den jüdischen Gemeinden eine Angst. Doch ich persönlich sehe auch eine ganze Menge Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft. Das wurde lange Zeit geleugnet.

Also ist der muslimische Antisemitismus kein großes Problem?
Traub:
Doch. Auch deshalb bin ich froh, dass Herr Blume das Amt übernommen hat, da er sehr gute Einblicke in die muslimische Szene hat. Auch da ist es wichtig, dass man sehr differenziert hinschaut. Zum Beispiel, dass sich in einzelnen Moscheegemeinden ein Meinungswechsel vollzieht, was mich sehr betroffen macht. Aber das heißt nicht, dass alle muslimischen Gemeinden antisemitisch werden.

Was tun Sie ganz konkret in diesem Bereich?
Blume:
Wir wollen zum Beispiel die israelische Hilfsorganisation »IsraAID« an der Flüchtlingsarbeit in Baden-Württemberg beteiligen. Denn es ist wichtig, dass Flüchtlinge so früh wie möglich Kontakt mit jüdischen Menschen haben. So können sie verstehen, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Und wer hier ankommen will, muss seinen Hass ablegen. Ich weiß, dass es in der islamischen Welt ein tiefes Antisemitismusproblem gibt. Ich bin in meinem Referat auch für die muslimischen Gemeinden zuständig, bin selbst mit einer Muslimin verheiratet, habe einen Blick auch von innen. Die aufgeklärten Muslime sagen selbst, dass die Verschwörungsmythen die islamischen Gesellschaften von innen heraus zerstören. Aber das ist eigentlich kein neuer Antisemitismus. Viele Menschen in der arabischen Welt glauben die Fälschung der »Protokolle der Weisen von Zion«. Wir haben aber auch einen AfD-Abgeordneten in unserem Landtag, der in seinen Schriften die These vertritt, die Protokolle seien echt. Das ist der gleiche Antisemitismus, mal auf Deutsch, mal auf Arabisch.

Stichwort neuer Antisemitismus: Ist Israel-Boykott für Sie ein Thema?
Blume:
Ich glaube, dass wir eine Debatte über linken Antisemitismus brauchen. Die Auffassung, die Welt wäre ein friedlicherer Ort, wenn Israel nicht existieren würde, bezieht sich auf ganz alte antisemitische Mythen. Oft steht hinter der sogenannten Israelkritik die Ablehnung von jüdischem Leben, jetzt aber in einem pseudo-friedensbewegten Gewand.

Frau Traub, die »Stuttgarter Zeitung« schrieb kürzlich, Stuttgarts Juden hoffen auf Normalisierung. In dem Maße, in dem der Hass wächst, suche die Gemeinde die Nähe der Stadtgesellschaft. Trifft diese Einschätzung zu?
Traub:
Nein, nicht vollumfänglich. Es hat nichts mit dem wachsenden Hass zu tun, dass wir uns öffnen. Das ist ein bewusster Wille. Wir haben durch die Zuwanderung ein neues Selbstbewusstsein gewonnen. Wir öffnen uns nicht aus Trotz, sondern aus dem Bewusstsein heraus, dass wir hier mit unseren Familien leben und uns als Teil der Gesellschaft empfinden. Bis in die 90er-Jahre waren die Gemeinden eher ein Rückzugsort für Schoa-Überlebende und deren Kinder. Das Judentum hat man eher wenig nach außen gezeigt. Als ich hierherkam, war mir klar, dass meine Kinder ihr Judentum in Deutschland selbstbewusst leben können – um überhaupt hier leben zu können. Das hat nichts mit Trotz zu tun.

Herr Blume, Sie haben bei Ihrem Amtsantritt von der leisen Hoffnung gesprochen, dass es eines Tages keinen Antisemitismusbeauftragten mehr braucht.
Blume: Vor uns liegt jahre-, vielleicht jahrzehntelange harte Arbeit, indem wir die alten Überzeugungen hinterfragen und an alte Mythen herangehen müssen. Ich kann mir vorstellen, dass wir dann irgendwann einmal sagen können, dass wir Antisemitismus so weit zurückgedrängt haben, dass es eigene Beauftragte nicht mehr braucht. Wenn wir es nicht schaffen, im 21. Jahrhundert jüdisches Leben zu schützen und eine gemeinsame Gesellschaft zu erhalten, dann hat die rechtsstaatliche Gesellschaft insgesamt verloren. Deshalb will ich nicht akzeptieren, dass es immer noch ganz viele Leute gibt, die sagen, es gehe sie nichts an.

Das Gespräch führte Detlef David Kauschke.

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