Dokumentation

»Ein fester Standpunkt«

Zentralratsvize Mark Dainow, der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert, Zentralratspräsident Josef Schuster und Zentralratsvize Abraham Lehrer (v.l.) Foto: Gregor Zielke

Josef Schuster
»Rabbiner Leo Baeck hat sich in einer Zeit intensiv um den interreligiösen Dialog bemüht, als es diesen Begriff noch gar nicht gab und als es – vor allem – kaum Begegnungen zwischen Juden und Christen gab. Verständnis für die andere Religion zu wecken, sich mit ihren Schriften auseinanderzusetzen und nach einem Dialog auf Augenhöhe zu suchen – das entsprach am Beginn des 20. Jahrhunderts keinesfalls dem Mainstream. (...)

Einen festen eigenen Standpunkt bei gleichzeitiger Offenheit für andere Haltungen sowie einem hohen Respekt vor anderen Religionen – das zeichnet auch Professor Lammert aus.
Über viele Jahre hat er am Holocaust-Gedenktag im Bundestag gesprochen und dabei auch Wahrheiten ausgesprochen, die sicher nicht alle Bürger in diesem Land gerne hören wollten. Bei der Auswahl der Redner hat sich Professor Lammert nicht auf jüdische Überlebende beschränkt. Er hat auch andere Opfergruppen in den Blick genommen: zum Beispiel Sinti und Roma oder Euthanasie-Opfer.

Ich möchte heute Abend betonen: Das findet in der jüdischen Gemeinschaft ganz ausdrücklich Zustimmung. Wir wehren uns zwar, wenn die Singularität der Schoa in Frage gestellt wird. Wir lehnen auch Gleichsetzungen ab, die in der heutigen Zeit modern, aber deshalb nicht richtig geworden sind, wie etwa die These, was die gesellschaftliche Ausgrenzung angehe, seien die Muslime die heutigen Juden.

Aber wir lehnen es in keiner Weise ab – im Gegenteil –, dass auch anderer Menschen gedacht wird, die unter den Nationalsozialisten unendlich gelitten haben und ermordet wurden. (...)

Lieber Professor Lammert, heute würdigen wir Ihr Engagement für die Erinnerung an die Schoa und für die deutsch-israelische Freundschaft. Vor allem aber würdigen wir Ihr immerwährendes Eintreten für die Werte unseres Grundgesetzes. (...) Für Ihr Wirken möchte ich heute in Namen der jüdischen Gemeinschaft meinen tiefen Dank aussprechen!«

Navid Kermani
»Besser noch als an Festreden lässt sich die überragende Bedeutung, die der Versammlung von Volksvertretern in Norbert Lammerts politischem Denken zukommt, an seinem Alltag als Bundestagspräsident illustrieren. Die erste Ansprache, die ich selbst von ihm gehört habe (...), war keine ganz gewöhnliche Ansprache, kurz zwar, gerade mal zehn Minuten lang, aber immerhin eröffnete sie eine Bundesversammlung. (...)

Das Ergebnis der Bundesversammlung stand schließlich schon fest, die Mehrheitsverhältnisse schienen klar. (...) Aber dann, einen Satz später, aus dem Handgelenk geschossen, weist Norbert Lammert auf das ›freie Mandat für die Mitglieder des Bundestages wie für die durch die Landtage gewählten Wahlmänner und Wahlfrauen‹ hin, ›die an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind‹. Stille im Reichstag, selbst die Abgeordneten der Opposition sind verblüfft. Mit einem einzigen Satz hatte Lammert das Selbstverständliche genau in dem Augenblick ausgesprochen, als die Mehrheit nun wirklich nicht daran erinnert werden wollte. (...)

Norbert Lammert steht dafür, dass das doppelte Erbe von Widerstand und Scham in der Bundesrepublik auch von Christdemokraten vertreten und heute vom gesamten Parlament anerkannt wird – mit der Einschränkung freilich, dass mit der Konstituierung des 19. Bundestags eine Fraktion am rechten Rand des Plenums hinzugekommen ist, die mit der bundesdeutschen Erinnerungskultur nichts zu tun haben will.

Deutschland soll, so heißt es dort, aber auch immer öfter in der Mitte der Gesellschaft, Deutschland soll endlich ein normales Land werden. Allein, es kann kein normales Land sein, das sechs Millionen Juden umgebracht hat. (...) Wenn etwas die Bundesrepublik in den letzten 60 Jahren stark gemacht hat, lebendig und lebenswert, wenn etwas die Deutschen in die Gemeinschaft der Völker zurückgeführt hat und auf Anerkennung, sogar Bewunderung gestoßen ist, dann gerade, dass auf diesem Boden niemals mehr vergessen wird.«

Norbert Lammert
»Heute ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die drittgrößte in Europa. Das, was sich in den Jahrzehnten nach der entsetzlichsten Periode der deutschen Geschichte in der zweiten deutschen Demokratie entwickelt hat, ist auch und gerade mit Blick auf die Wiederherstellung jüdischen Lebens in Deutschland eine im wörtlichen wie im übertragenen Sinne wundersamsten Erfahrungen in der Geschichte der Menschheit.

Und das gilt sowohl für das jüdische Leben in Deutschland wie für das Verhältnis zwischen dem neuen deutschen Staat und dem Staat Israel. (...) Der inzwischen verstorbene israelische Staatspräsident Schimon Peres hat gelegentlich daran erinnert, dass im jungen israelischen Staat ›die Auffassung überwog, dass der Bruch mit Deutschland endgültig und ewig sein müsse‹. (...) Deshalb sind die jährlichen Gedenkstunden des Deutschen Bundestages noch wichtiger als die regelmäßige Verleihung des Leo-Baeck-Preises. (...)

In einer sehr aktuellen Meinungsumfrage aus dem Dezember des vergangenen Jahres wird deutlich, dass mehr als zwei Drittel der befragten Deutschen den Eindruck haben, dass Antisemitismus in den vergangenen Jahren zugenommen hat. (...) Wir akzeptieren Antisemitismus in Deutschland nicht, ganz gleichgültig, ob er einheimisch oder zugewandert ist.

Ich bedanke mich herzlich für eine Auszeichnung, die ich als Person nicht verdiene, aber viele bekannte und noch mehr unbekannte Menschen in unserem Land, die ich als Parlamentarier viele Jahre vertreten durfte. Zu rechtfertigen ist diese Auszeichnung nur stellvertretend für meine Vorgänger und Nachfolger, die alle diese Orientierung miteinander teilen. In diesem Sinn nehme ich sie gerne an.«

Berlin

»Berlin verneigt sich«

Zwei Monate nach ihrem Tod wird die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer in Berlin gewürdigt. Der Bundespräsident mahnt vor Politikern und Weggefährten, das Erbe der Jahrhundertfrau weiterzutragen

von Alexander Riedel  09.07.2025 Aktualisiert

Berlin

Berufungsverhandlung gegen X wegen antisemitischer Inhalte

Der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, unterstütze den Prozess

 09.07.2025

Langenau

»Die Aktivisten wollen den Pfarrer und seine Familie zermürben«

Württembergs Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl fordert konkrete Schritte gegen »propalästinensische« Störer vor der Martinskirche. Die Stadt habe »versucht, es auszusitzen«

 09.07.2025

Berlin

Lahav Shapira verklagt FU: Prozess beginnt Dienstag

Der attackierte Student wirft seiner Universität vor, zu wenig gegen Antisemitismus auf dem Campus getan zu haben

 09.07.2025

Meinung

BSW und AfD: Zwei Ausprägungen desselben autoritären Denkens

Sahra Wagenknecht und ihre Partei nähern sich den Rechtsextremen immer weiter an. Spätestens jetzt ist klar: Am BSW gibt es nichts Progressives

von Igor Matviyets  09.07.2025

Interview

»Schau ma mal, dann seng ma scho«

Josef Schuster über 75 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland, Herausforderungen für die Gemeinden und die Frage, ob er für eine weitere Amtszeit kandidieren will

von Leticia Witte  09.07.2025

Berlin

Merz: Israels Angriffe auf Iran sind völkerrechtskonform

Sind die israelischen Angriffe auf den Iran vom Völkerrecht gedeckt? Der Kanzler nimmt dazu nun eine eindeutige Haltung ein

 09.07.2025

Berlin

Millionenförderung für jüdisches Leben

Die sogenannten Staatsleistungen machten dabei fast 8,9 Millionen Euro in dieser Summe aus. Als Zuwendung für personelle Sicherheitsleistungen flossen den Angaben zufolge 6,1 Millionen Euro

 09.07.2025

Skandal-Band

Felix Klein fordert, Konzerte von »Bob Vylan« abzusagen

Das britische Punk-Duo hatte bei einem Auftritt israelischen Soldaten den Tod gewünscht

von Hannah Schmitz  09.07.2025