Historikerstreit 2.0

Die Schoa wird relativiert

»Wir sehen ein giftiges Gemisch aus Ideologieversatzstücken«: Stephan Grigat Foto: katho NRW/ Uta Wagner

Herr Grigat, in Ihrem neuen Buch »Erinnern als höchste Form des Vergessens?« beschäftigen Sie sich mit der deutschen Gedächtniskultur im Schatten des Holocaust und dem Historikerstreit 2.0. Was meinen Sie mit diesem Begriff?
In dem Buch, das ich mit Kollegen von der Gesellschaft für kritische Bildung und der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung im Verbrecher Verlag herausgegeben habe, thematisieren wir, dass wir derzeit einen neuen Historikerstreit erleben. Anders als in den 80er-Jahren, als es eine Art Generalangriff von rechten Historikern auf die Singularität von Auschwitz gab, kommt dieser aktuell von linker Seite, von Historikern, die sich selbst als fortschrittlich und emanzipatorisch verstehen.

Was kennzeichnet diesen neuen Angriff?
Die Historiker und Aktivisten, die den Historikerstreit 2.0 begonnen haben, behaupten mit einer ganz spezifischen Intention, es gebe in Deutschland so etwas wie eine ritualisierte Form der Vergangenheitspolitik – etwas, das auch wir in unserem Buch thematisieren und kritisieren, wenn auch gänzlich anders begründet. Sie versuchen, die nationalsozialistischen Massenverbrechen gegenüber den Juden und Jüdinnen in eine Art Gesamtgeschichte des Kolonialismus und Rassismus einzuordnen. Dadurch kommt es zu einer Nivellierung der entscheidenden Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus zum einen; zum anderen wird die Präzedenzlosigkeit der Schoa infrage gestellt.

Was folgt daraus?
Das führt, politisch betrachtet, zu einem Angriff auf Israel und auf den Zionismus. Diese Akteure wissen natürlich, dass Israel kein Staat wie alle anderen ist, sondern der Staat der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen, der auf dieser Präzedenzlosigkeit der Schoa basiert.

Nicht nur seitens einiger Historiker wird das Existenzrecht Israels offenbar infrage gestellt, sondern auch von Philosophen wie der jüdischen Gender-Theoretikerin Judith Butler. Was hat es damit auf sich?
Sie reiht sich mit ihrer radikalen, ahistorischen Ablehnung des Staates Israel in eine lange Tradition des Antizionismus ein, wie er auch nach 1945 innerhalb der jüdischen Weltbevölkerung vorkam – wenn auch nur, anders als vor dem Nationalsozialismus, bei einer kleinen Minderheit. Gleichzeitig stellt Butler sich an die Seite von antisemitischen Terrorbanden wie der Hamas oder der Hisbollah, bei denen sie lediglich die von ihnen angewendeten Mittel kritisiert, also den Einsatz von Gewalt, aber explizit nicht ihre Zielsetzung: Der Staat Israel soll nicht mehr existieren als ein zionistischer Staat, der als Schutzraum für Jüdinnen und Juden gelten kann. Das halte ich für eine völlig inakzeptable Position. Egal, ob sie von einer Jüdin oder einer Nichtjüdin formuliert wird.

An Universitäten, vor allem in den USA, fordern linke Studenten die Vernichtung Israels. Welche Ideologie steckt hinter diesem Hass?
Was wir in den USA derzeit sehen, ist ein giftiges Gemisch aus Ideologieversatzstücken: aus krudem Anti-Imperialismus und Marxismus-Leninismus, Islamismus und arabischem Nationalismus, außerhalb der Universitäten mitunter auch klassisch rechtsradikaler Propaganda sowie – insbesondere im akademischen Bereich – poststrukturalistischer Philosophie und Verfallsformen einer postkolonialen Sichtweise. Letztere werden seit fast zwei Dekaden als Substitut für kritisches Denken an vielen Universitäten herumgereicht. Der israelbezogene Antisemitismus erweist sich hier als eine der zentralen Integrations­ideologien unserer Zeit, die in der Lage ist, politisch sehr heterogene Gruppierungen im Hass auf Israel zu homogenisieren.

Warum tun sich in Deutschland insbesondere die Behörden, aber auch die gesamte Gesellschaft so schwer beim Umgang mit arabischem Antisemitismus?
Zum einen aus einem falsch verstandenen Antirassismus heraus, zum anderen spielt hier ein gewisser Kulturrelativismus eine entscheidende Rolle, und zwar die Vorstellung, dass nur Leute aus der Region selbst etwas kritisieren dürfen, was aus dieser Region stammt. Es bräuchte eine aufklärerische Kritik am arabischen und islamischen Antisemitismus. Gerade auch, um die Kritik an solchen Zuständen nicht Fremdenfeinden von rechts zu überlassen.

Wie soll Deutschland mit Israel umgehen, solange die Regierung dort rechts und religiös-fundamentalistisch ist?
Man sollte sich nicht in die inneren Angelegenheiten von Israel einmischen. Die Solidarität mit Israel bezieht sich nicht auf eine bestimmte Regierung, sondern auf den Staat Israel als Schutzraum für alle vom Antisemitismus Verfolgten. Vor diesem Hintergrund sollte man in Deutschland eher darüber sprechen, wie sich die Bundesregierung gegenüber dem Holocaustleugner-Regime im Iran verhält.

Der Philosoph Omri Boehm wünscht sich für Israelis und Palästinenser eine Ein-Staat-Lösung. Wie realistisch ist das?
Es ist eine schöne Idee – solange man alles ausblendet, was man historisch über die Situation von Juden in islamisch geprägten Gesellschaften weiß. Hier wird im Sinne von Kants Vorstellung vom ewigen Frieden argumentiert. Ich würde eine solche Position als ultraidealistisch bezeichnen. Im besten Fall.

Das klingt sarkastisch.
Das grundlegende Problem an solchen Positionierungen ist, dass sie auf einer zwanghaften Abstraktion von der antisemitischen Bedrohung basieren. Deshalb ist es nicht nur eine ganz sympathisch klingende Idee, sondern es ist eine gefährliche Positionierung. Übrigens hat Boehm sie nicht selbst gebastelt, was er auch gar nicht beansprucht. Das ist eine typische Positionierung von israelischen Antizionisten.

Mit dem Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule in Aachen sprach Stefan Meetschen.

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