Widerstand

»Die letzte gemeinsame Zigarette ist erfunden«

Die Büste von Sophie Scholl im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität in München Foto: picture alliance / Ulrich Baumgarten

Seit Oktober 2022 entsteht im Internet eine umfangreiche Datenbank zur Widerstandsgruppe »Weiße Rose«: Der promovierte Theologe Martin Kalusche trägt für jeden Tag zwischen Januar und Oktober 1943 Protokolle, Briefe, Fotos, Tagebucheinträge, Berichte von Zeitzeugen sowie weitere Dokumente aus Archiven, Bibliotheken und Nachlässen zusammen. Sie geben einen chronologischen Überblick über die Aktivitäten und das Schicksal der mehrheitlich studentischen Widerstandsgruppe um Hans Scholl und Alexander Schmorell.

Bislang sind auf etwa 700 Seiten sieben Tage rund um den 22. Februar 1943 dokumentiert - dem Tag vor 80 Jahren, als Hans und Sophie Scholl sowie ihr Freund Christoph Probst im Strafgefängnis München-Stadelheim enthauptet wurden. Susanne Schröder sprach mit Kalusche.

Herr Kalusche, Sie haben für das Mammutprojekt Ihrer historisch-kritischen Quellenedition zehn Jahre veranschlagt. Was hat Sie eigentlich auf diese Idee gebracht?

Martin Kalusche: Meine intensive Beschäftigung mit der »Weißen Rose« begann vor zwei Jahren mit den Hans-und Sophie-Scholl-Biografien von Robert Zoske. Eine Frage, die sich aufdrängte, war: Wie konnte Sophie in der öffentlichen Wahrnehmung zur zentralen Figur der »Weißen Rose« werden?

Als ich mehr darüber las, bekam ich den Eindruck, dass sich viele Autoren im Wesentlichen auf Sekundärliteratur stützen. Und wenn Quellen zitiert werden, dann häufig nur ausschnittsweise und auch nicht immer kritisch genug. Das hat mir nicht gereicht, ich wollte zurück zu den Quellen.

Gibt es denn nach 80 Jahren überhaupt noch Neues zu entdecken?

Martin Kalusche: Manche Dokumente unterliegen noch einer Sperrfrist. Das Tagebuch von Otl Aicher, dem Freund und späteren Mann von Inge Scholl, wurde beispielsweise erst im Februar 2021 freigegeben. Davon haben wir uns sehr viel versprochen, denn seine Aussagen nach dem Krieg waren oft diffus oder widersprüchlich. Die Frage, ob er eine Warnung von Inge bekommen und vor der letzten Flugblatt-Aktion am 18. Februar 1943 an die Geschwister weitergegeben hatte, wurde nie geklärt.

Erst 2022 brachte der brillante Aufsatz »Todesmut und Lebenswille« des Münchner Historikers Hans Günter Hockerts Licht ins Dunkel. Wir haben miteinander ein Bewegungsprofil von Otl Aicher erstellt: Wann fuhren die Züge zwischen Solln, wo Otl im Februar 1943 ein paar Tage wohnte, und München? Wie deckt sich das mit seinen Aussagen? Wann war er überhaupt telefonisch erreichbar und konnte selbst telefonieren?

Und ich habe Inge Scholls Berichte radikal hinterfragt. Am Ende stand für mich fest: Aicher hat, anders als jahrzehntelang behauptet, Hans Scholl weder am 17. Februar spätabends angerufen noch am Vormittag des 18. versucht, die Geschwister persönlich zu treffen. Weil Inge ihn gar nicht kontaktiert hatte.

Was haben Sie bislang noch herausgefunden?

Martin Kalusche: Beispielsweise ist die bekannte Geschichte von der letzten Zigarette von Hans, Sophie und Christoph kurz vor der Hinrichtung eine Legende. Die Hinrichtungsprotokolle lassen dafür überhaupt keinen Spielraum - minutiös wird die Zeit dokumentiert zwischen dem Verlassen der Zelle und der Feststellung des Todes.

Und von der Vollstreckungsankündigung um 16 Uhr bis zur Hinrichtung um 17 Uhr verging gerade mal eine Stunde, die gefüllt war mit Abschiedsbriefen und Seelsorge bis unmittelbar vor dem letzten Gang.

Ein - natürlich strengstens verbotenes - Zusammenkommen war zeitlich nicht möglich, und es gab auch kein Motiv: Warum sollten Bedienstete der NS-Justiz etwas riskieren, nur um drei gerade zum Tod verurteilten Hochverrätern das zu ermöglichen? Das alles ist frei erfunden.

Das klingt alles nach zeitraubender Puzzlearbeit.

Martin Kalusche: Es ist ein detektivischer Stil, denn mich interessiert jedes Detail. Das verästelt sich unglaublich. Ich merke schon, dass ich mit meinen Kräften haushalten muss und nicht jeder Spur folgen kann. Die Flucht von Alexander Schmorell zum Beispiel ist bislang noch nicht genügend erforscht. Ich kann aber jetzt nur die Quellen zusammentragen. Analysieren und darstellen müssen es dann andere.

Was ist Ihr Ziel?

Martin Kalusche: Die Edition soll ein barrierearmes Hilfsmittel sein, das von überall genutzt werden kann. Ich grabe in den Archiven, schreibe ab, scanne - und andere können dann mit diesen Quellen weiterarbeiten. Ich möchte, dass jede und jeder im Internet nachprüfen kann, was in Literatur und Film berichtet wird. Dort heißt es gerne: »Auf Grundlage bislang unbekannter Quellen«. Das soll Vertrauen in das eigene Werk schaffen.

Aber wie kann das Publikum überprüfen, wie authentisch und kritische die Quellen verwendet werden? Mir geht es um Emanzipation. Alle sollen sich ein eigenes Urteil bilden können.

Wer heute »Weiße Rose« sagt, denkt als Erstes an Sophie Scholl. Woran liegt das?

Martin Kalusche: Die Geschwister Scholl hatten schon kurz nach dem Krieg einen hohen Aufmerksamkeitswert. Dabei stand Sophie nicht im Fokus, eher die Geschwister und ihre Aktion. Doch dann verselbstständigte sich Sophie zu einer Ikone, vor allem durch Hermann Vinkes Buch von 1980, »Das kurze Leben der Sophie Scholl«, das ein Long- und Bestseller wurde.

1982 kam Verhoevens Film über die »Weiße Rose«, 2005 dann Rothemunds »Sophie Scholl - Die letzten Tage«. Diese Filme hatten eine enorme Strahlwirkung, das meiste allgemeine Wissen speist sich aus ihnen. Sophie war dabei immer im Zentrum, obwohl sie keineswegs die zentrale Figur der »Weißen Rose« war - das waren Hans und Alexander Schmorell.

Vielleicht ist das eine Art Jeanne d’Arc-Effekt: Sophie als Archetyp der kämpfenden Jungfrau, die sterben muss. Die anderen Mitglieder der »Weißen Rose« gerieten darüber in den Schatten.

Aber vielleicht ist die Konzentration auf eine Figur erlaubt, um die Botschaft des Widerstands heute noch so zu vermitteln, dass sie viele Menschen erreicht?

Martin Kalusche: Für mich ist es nicht legitim. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wir müssen die Komplexität der Geschichte und auch ihre Widersprüchlichkeit offenlegen: Das ist der Unterschied zwischen Geschichte und Geschichten. Warum soll das Schicksal einer Person so ins Zentrum gerückt werden? Was ist mit dem bitteren Schicksal der anderen, die monatelang auf ihre Hinrichtung warten mussten?

Hans, Sophie und Christoph konnten erhobenen Hauptes in den Tod gehen. Hauptverhandlung und Vollstreckung liefen so rasend schnell, dass ihre Psyche sie unter diesem extremen Stress vielleicht geschützt hat, zusätzlich zu ihrer außergewöhnlich beeindruckenden Persönlichkeit.
Die anderen - Alexander Schmorell, Kurt Huber und Willi Graf - sind ebenfalls aufrecht in den Tod gegangen. Aber ich persönlich glaube, sie hatten es viel schwerer.

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