Polen

»Die Fackel der Verantwortung weitergeben«

Es war ein aussichtloser Kampf – umso heldenhafter und symbolisch wichtig war der Griff zu den Waffen der rund 750 jüdischen Männer und Frauen im Warschauer Ghetto. Heute vor genau 80 Jahren entschlossen sich die jüdischen Gefangenen, gegen die Deutsche Wehrmacht bis zum Letzten Widerstand zu leisten.

Vier Wochen konnten sie, obwohl zahlenmäßig deutlich unterlegen, den Widerstand aufrechterhalten, bevor die Nationalsozialisten das Ghetto vollständig zerstörten - und die letzten Überlebenden entweder direkt erschossen oder in Vernichtungslager deportierten. Insgesamt kamen mehr als 56.000 Juden während des Aufstandes ums Leben.

Auf den Tag genau 80 Jahre später haben heute die Staatspräsidenten von Israel, Polen und Deutschland an den Mut und das Schicksal der jüdischen Aufständischen erinnert. An der bewegenden Gedenkzeremonie am Denkmal der Helden des Ghettos in der polnischen Hauptstadt nahmen auch polnisch-jüdische Zeitzeugen wie Marian Turski und Krystyna Budnicka teil. Zu den weiteren Teilnehmern gehörten unter anderem Zentralratspräsident Josef Schuster, Ronald Lauder, Präsident des World Jewish Congress, und Polens Oberrabbiner Michael Schudrich.

ZEITZEUGE Der 96-jährige polnisch-jüdische Holocaust-Überlebende Marian Turski eröffnete mit seiner Rede die Gedenkveranstaltung und sprach über ebenjene Krystyna Budnicka, die als eine der ganz wenigen Juden die »Hölle von Warschau«, wie Turski es nannte, als Elfjährige überlebte. Budnickas beiden Brüder wurden vom Warschauer Ghetto aus in ein Konzentrationslager deportiert und ermordet. »Wir haben uns heute versammelt, um die Helden des jüdischen Widerstands zu ehren«, betonte Turski. »Dieses Leid wurde ihnen von den Deutschen zugefügt, aber zur Wahrheit gehört auch, dass der Wehrmacht auch von Kollaborateuren geholfen wurde.«

Der 96-jährige polnisch-jüdische Holocaust-Überlebende Marian Turski eröffnete mit seiner Rede die Gedenkveranstaltung.

Turski beklagte in seiner Rede den Antisemitismus, der auch heute noch weltweit virulent ist. Wer an damals erinnert, der müsse auch heute Judenhass in den Blick nehmen, so der 96-jährige Zeitzeuge. »Meine Mahnung an die Nachwelt lautet: Der Hass darf niemals siegen.« Turski betonte, wie dankbar er der russischen Armee bis heute ist, dass sie ihn damals vor den Deutschen gerettet hatte. Aber, so Turski weiter, »ich kann nicht schweigen, wenn ich heute sehe, was die russische Armee in Butscha anrichtet. Wie Russland die souveräne Ukraine überfällt. Wie Russland Frauen, Kinder und Männer ermordet«.

»Wir müssen Nein sagen zum Hass«, forderte Turski. »Zum Antisemitismus. Zum Rassismus. Zum Krieg. Zum Morden. Es wird uns in den Abgrund führen. Und unsere Kinder und Enkelkinder. Die Freiheit muss siegen.«

POLEN Andrzej Duda, Staatspräsident von Polen, erinnerte daran, dass Warschau schon in den 30er-Jahren eine Großstadt war - und zwar »wie New York auch eine jüdische Großstadt, mit über 350.000 jüdischen Bürgern. Wir haben hier zusammengelebt, man kann sagen, unter einem Dach. Diese Tausend Jahre des Zusammenlebens haben die Nazis zerschnitten.« Eine tief greifende Zäsur, wie Duda ausführte.

»Die polnischen Juden waren Polen wie jeder andere Pole auch«, erklärte Duda. »Aber die Nazis versklavten sie noch stärker als die nichtjüdischen Polen. Sie wurden verschleppt und zusammengepfercht und ermordet. Es war unvorstellbar.« Eine der Konsequenzen aus der Geschichte, betonte Duda, sei, dass das polnische Volk wehrhaft sein und selbst für seine Sicherheit einstehen müsse.

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Duda würdigte die Teilnehmer des Aufstands als gemeinsame Helden Polens und Israels. Die Menschen, die sich 1943 gegen die deutschen Besatzer erhoben hatten, seien »die Helden Israels, die Helden der Juden auf der ganzen Welt, sie sind die Helden Polens und der Polen«. Die Aufständischen seien mit ihrem Mut ein Vorbild für israelische und polnische Soldaten, die die Grenzen ihrer Länder bewachen.

Ihn erinnerten die Kämpfer an die Makkabäer, die sich ebenfalls zum Kampf entschlossen hatten, statt sich den Feinden zu ergeben. Duda schloss mit einem Appell: »Wir verneigen uns vor den polnischen Juden. Wir verneigen uns vor den polnischen Bürgern. Jeder, der Hass schürt, jeder, der die Würde anderer Menschen mit Füßen tritt, jeder, der das Andenken der polnischen Juden mit Füßen tritt, die Gräber der Gerechten unter den Völkern, den verurteilen wir auf das Schärfste.«

ISRAEL Auch Israels Staatspräsident Isaac Herzog fand bewegende Worte für die Gräuel der Deutschen Wehrmacht, für die es eigentlich keine Worte geben kann. »Ein unbekannter Jude schrieb in seinem Tagebuch, im April 1943: ›Ich schaue in den Himmel, das letzte Mal in den blauen Himmel. Das ist der letzte Gang meines Lebens.«

Er schaue nun auch in den Himmel, »und ich bin unfassbar berührt und traurig. Hier an dieser Stelle befand sich das Ghetto. Unweit von hier war der Umschlagsplatz. Hier wurden viele ermordet, hier sind viele gestorben, von hier wurden viele Juden deportiert«. Herzog würdigte den Aufstand im Warschauer Ghetto. »Die meisten aufständischen Juden haben nicht überlebt, aber es war ein Sieg des Geistes. Die aufständischen Juden waren Helden.«

An Bundespräsident Steinmeier gerichtet, sagte Herzog: »Wir erinnern uns an Ihre historische Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Wir danken Ihnen für Ihre klaren Worte damals. Es ist wichtig zu betonen, dass die Verantwortung für die deutschen Verbrechen immerwährend ist. Und wir werden die Kämpfer in alle Ewigkeit in unseren Köpfen und in unseren Herzen ehren.«

dialog Herzog dankte zudem seinem polnischen Kollegen Andrzej Duda für dessen entschlossenen Einsatz bei der Erinnerung an den Holocaust. Dies sei die Basis für einen »wichtigen Dialog zwischen Polen und Israel und die Förderung der Freundschaft zwischen unseren Völkern«.

Israels Präsident Isaac Herzog würdigte Steinmeier für dessen »moralische Führung«.

Israels Präsident würdigte Steinmeier für dessen «moralische Führung». Der deutsche Präsident spiele eine wichtige Rolle bei der Vertiefung der Freundschaft zwischen Israel und Deutschland, »und in ihrem Zentrum die ewige Verpflichtung gegenüber dem Gedenken, der Verantwortung und der Zukunft, Sicherheit und dem Gedeihen des Staates Israel«. Es sei wichtig, die »Fackel der Verantwortung« an künftige Generationen weiterzugeben.

Die damals ermordeten Juden hätten es sich nicht vorstellen können, dass die Präsidenten Polens, Israels und Deutschlands 80 Jahre später ihr Heldentum gemeinsam würdigen würden, sagte Herzog.

DEUTSCHLAND Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begann seine Gedenkrede bewusst nicht in Deutsch. Er begann auf Jiddisch, in der Sprache, die viele Juden damals in Polen und Europa gesprochen hatten. Er zitierte Abschiedszeilen der polnisch-jüdischen Malerin Gela Seksztajn, ehe sie mit ihrer kleine Tochter Margalit nach Treblinka deportiert wurde: »ZEIT GEZUNT CHAVEYRIM UN FREIND, ZEI GEZUNT YIDDISH FOLK, DERLOZT NISHT MER ZU AZELCHE CHURBOYNES.« »Lebt wohl, Freunde. Lebe wohl, jüdisches Volk. Lasst nie wieder eine solche Katastrophe zu.«

Steinmeier bekannte sich zur deutschen Verantwortung für die Vernichtung der Juden und bat um Vergebung. Er bedankte sich bei seinen israelischen und polnischen Amtskollegen für die Versöhnung beider Staaten mit den einstigen Tätern. Diese sei ein »unendlich kostbares Geschenk«.

Der Bundespräsident betonte in seiner Rede, die Deutschen hätten das Menschheitsverbrechen der Schoa minutiös geplant und durchgeführt. »Deutsche haben Europas Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden Warschaus mit unvorstellbarer Grausamkeit und Unmenschlichkeit verfolgt, versklavt, ermordet«, sagte Steinmeier. »Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben«. Er stehe hier »in Trauer und Demut«.

»Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben.«

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Die wichtigste Konsequenz aus der deutschen Geschichte laute »Nie wieder!«, sagte Steinmeier. Die Deutschen hätten diese Lehre gelernt. Nie wieder, das bedeute, dass es in Europa keinen verbrecherischen Angriffskrieg wie den Russlands gegen die Ukraine geben dürfe. »Nie wieder, das bedeutet: Wir stehen fest an der Seite der Ukraine – gemeinsam mit Polen und mit unseren anderen Bündnispartnern. Wir unterstützen die Ukraine humanitär, politisch und militärisch – gemeinsam mit Polen und unseren Bündnispartnern.«

WJC Ronald S. Lauder, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, erinnerte daran, dass die Aussichtslosigkeit des Unterfangens allen Beteiligten des Ghetto-Aufstands bewusst gewesen sei. Doch mit ihrem Widerstand wollten sie zeigen, dass Juden kämpfen konnten, dass sie sich nicht wehrlos ergeben. Bis heute nötigten ihm ihr Mut und ihre Entschlossenheit tiefen Respekt ab.

Vor 50 Jahren habe er das erste Mal Warschau besucht. »In meinem Kopf hörte ich die Schreie meiner jüdischen Brüder und Schwestern. Ich hörte die Maschinengewehre. Nie dürfen wir dieses Leid und diesen Mut vergessen.« Damals lernte Lauder den Überlebenden des Warschauer Ghettos Marek Edelmann kennen. Ihm versprach Lauder, alles für die Erinnerung an die Schoa, für die Erinnerung an die jüdischen Aufständischen zu tun.

Anderthalb Millionen jüdischen Kinder wurden während des Holocaust ermordet, rief Lauder in Erinnerung: »Herr Präsident Duda, wir müssen uns daran erinnern, was uns hier zusammenbringt. Wir alle haben zusammen gegen die deutschen Nazis gekämpft. Auch heute noch müssen wir zusammen gegen den Hass in der Welt kämpfen. Und zwar gemeinsam.«

ZENTRALRAT Am Rande des Gedenkaktes sagte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: »Der heutige Gedenkakt am Mahnmal der Helden des Warschauer Ghettoaufstandes war ein bedeutender Schritt für das moderne Polen.«

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Es gehe nicht nur um Versöhnung, sondern auch um die eigene Geschichte. »Jüdisches Sterben war einsam, um den Schoa-Überlebenden Louis Begley sinngemäß zu zitieren«, so Schuster. »Das gilt auch und im starken Maße für die polnischen Juden.«

RÜCKBLICK 1940 hatten die deutschen Besatzer mitten in Warschau einen Wohnbezirk für polnische und aus Deutschland deportierte Juden errichtet. Der von einer hohen Mauer umgebene Bezirk - »Ghetto« genannt - war ein Sammellager für das nahe gelegene Vernichtungslager Treblinka und das Konzentrationslager Majdanek.

Die Lebensbedingungen im Ghetto waren menschenunwürdig. Viele Bewohner starben an Unterernährung und Krankheiten. Infolge der Deportationen verkleinerte die SS das Ghetto-Gelände zunehmend. Allein zwischen Juli und September 1942 wurden mehr als 240.000 Menschen deportiert.

Als sich am 19. April 1943 die Widerständler erhoben, umstellten deutsche Truppen das Ghetto. In den ersten Tagen konnten die insgesamt etwa 750 jüdischen Kombattanten die Einheiten der SS, Polizei und Wehrmacht aufhalten. Wegen der Bombardierung des Viertels mussten sich die Kämpfer in sogenannte Bunker zurückziehen, wo viele von ihnen starben. Nur wenigen gelang die Flucht. Der ehemalige Ghetto-Bezirk wurde dem Erdboden gleichgemacht, die Häuser gesprengt. Am 16. Mai 1943 galt der Aufstand endgültig als niedergeschlagen. Insgesamt kamen dabei mehr als 56.000 Juden ums Leben.

Heute erinnert das »Denkmal der Helden des Ghettos« an den Aufstand. 1970 kniete sich der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) bei einem Besuch in Warschau vor dem Mahnmal nieder. Die Bilder gingen um die Welt. Der Kniefall gilt heute als wichtige Geste auf dem Weg der Versöhnung zwischen Deutschland und Polen. ppe/dpa/epd

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