Herr von Wrochem, der 80. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung der Konzentrationslager steht bevor. Wie blicken Sie als Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf diesen Tag?
Ich bin etwas aufgeregt, denn wir erwarten zahlreiche Gäste zu unseren Gedenkveranstaltungen – darunter viele Nachkommen von Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung. Gleichzeitig geht die Zeit zu Ende, in der Überlebende selbst als moralische Instanzen präsent waren. Lange haben sie entscheidend dazu beigetragen, die Erinnerung an die NS-Verbrechen fest in unserer politischen Kultur zu verankern.
Der Jahrestag fällt zudem in eine auf politischer Ebene angespannte Zeit.
In der Tat reisen dieses Jahr viele unserer Gäste mit großer Sorge an. Sie beobachten einen zunehmend verbreiteten Antisemitismus – insbesondere seit dem 7. Oktober – sowie das Erstarken rechter, autoritärer Bewegungen, nicht nur in Deutschland. Auch Angehörige aus Frankreich, Belgien oder den Niederlanden berichten von vergleichbaren Tendenzen. Helga Melmed, voraussichtlich die einzige Überlebende des KZ Neuengamme, die wir zum Jahrestag erwarten, äußert große Besorgnis über die Entwicklungen in ihrer Heimat, den Vereinigten Staaten. In Deutschland wiederum ist die Erinnerung an die NS-Zeit für viele Menschen zwar noch immer von großer Bedeutung, doch der gesellschaftliche Kontext verändert sich. Wir befinden uns in einer neuen, beunruhigenden Lage.
»Gedenkstätten verfügen über Wissen darüber, wie autoritäre Regime entstehen können.«
Welche Auswirkungen hat das auf die Erinnerungskultur in Deutschland?
Die letzten vier Jahrzehnte bestand weitgehend ein politischer Konsens, dass die Erinnerung an die Schoa und die NS-Verbrechen ein zentrales Fundament unserer Demokratie bildet. Das wird zunehmend angezweifelt. Deutschland wurde lange eine Vorbildrolle bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus zugeschrieben – jetzt steht sie radikal infrage.
Auch Angriffe auf Gedenkstätten nehmen zu. Wie erleben Sie das konkret?
Seit der Corona-Pandemie beobachten wir ein großes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen – und Gedenkstätten werden oft als solche wahrgenommen. Das äußert sich auf unterschiedliche Weise: durch Holocaust-Leugnung, Relativierung, Diffamierung in sozialen Medien. Nach dem 7. Oktober hat sich diese Tendenz noch einmal verstärkt. Jüdische Einrichtungen sind unmittelbar stärker betroffen, aber auch wir spüren diese Entwicklung.
Was bedeuten diese Entwicklungen für die Arbeit von Gedenkstätten?
Gedenkstätten sind nicht nur Orte des Erinnerns, sondern auch gesellschaftspolitische Akteure. Sie verfügen über ein vertieftes historisches Wissen darüber, wie Demokratien scheitern und autoritäre Regime entstehen können. Anfang des Jahres haben wir in Reaktion auf die Wahlen des letzten Jahres gemeinsam mit anderen Einrichtungen die Kampagne #GeradeJetzt ins Leben gerufen. Ziel ist es, unsere Anliegen – etwa die Erinnerung an die Opfer der Schoa, aber auch die daraus resultierende Verantwortung für das eigene Handeln – noch stärker in die Gesellschaft zu tragen.
Sie selbst sind zuletzt auf Großdemonstrationen aufgetreten. Warum?
Unsere Arbeit erreicht meist nur bestimmte Personengruppen. Doch das reicht nicht. Die gesellschaftliche Polarisierung nimmt zu – deshalb ist es entscheidend, dass wir unsere Expertise auch darüber hinaus einbringen. Ereignisse wie das sogenannte Geheimtreffen in Potsdam oder die gemeinsame Abstimmung der Unionsparteien mit der AfD im Bundestag kann man nicht einfach so hinnehmen.
Sie haben die AfD angesprochen. Welche Rolle spielt die Partei in Ihrer Arbeit?
In Hamburg war die AfD bislang vergleichsweise unauffällig – zumindest, was direkte Angriffe auf unsere Arbeit betrifft. Bisher wendeten sich ihre Angriffe stärker gegen die Aufarbeitung des kolonialen Erbes oder gegen gesellschaftliche Vielfalt. Allerdings stellte die Partei vergangenes Jahr im Rahmen unserer Ausstellung zur rechten Gewalt in Hamburg nach 1945 Anfragen, die bestimmte Erkenntnisse anzweifelten. Zudem ist es bemerkenswert, wenn AfD-Bürgerschaftsabgeordnete wie Alexander Wolf in Bezug auf die NS-Zeit vom »Schuldkult« sprechen. Das kannte man bisher vor allem von ostdeutschen Landesverbänden.
»Es reicht nicht mehr aus, dass Menschen zu uns kommen – wir müssen zu ihnen gehen.«
Bei der Bundestagswahl und der Bürgerschaftswahl erzielte die AfD in Neuengamme, also in unmittelbarer Umgebung Ihrer Gedenkstätte, deutlich zweistellige Ergebnisse.
Das ist für mich schwer zu erklären. Doch ich schließe daraus, dass wir noch stärker in die Nachbarschaft hineinwirken und unserer Rolle als gesellschaftspolitischer Akteur gerecht werden müssen. Als Stiftung wollen wir den direkten Kontakt stärker suchen, etwa zu Seniorengruppen oder der Freiwilligen Feuerwehr. Es reicht nicht mehr aus, dass Menschen zu uns kommen – wir müssen zu ihnen gehen. Zudem wollen wir lokale Initiativen aktiv in unsere Arbeit einbinden, beispielsweise rund um die Gedenkfeierlichkeiten.
Angesichts der AfD-Erfolge ziehen viele Parallelen zur NS-Zeit. Halten Sie solche Vergleiche für gerechtfertigt?
Zwar weist die AfD eindeutig geschichtsrevisionistische Elemente auf, doch das ist nicht ihr zentrales ideologisches Fundament. Entscheidender ist das tief verwurzelte antidemokratische und autoritäre Denken in der Partei. In diesem Punkt sehe ich Parallelen zur Weimarer Republik. Auch der Antisemitismus ist vorhanden – allerdings weniger als verbindendes ideologisches Element, wie es damals der Fall gewesen ist. Dennoch sollte man sich keine Illusionen machen: Wenn eine Partei wie die AfD erst einmal an der Macht ist, können sich antidemokratische, antisemitische und autoritäre Dynamiken schnell radikalisieren.
Mit dem Historiker und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland sprach Sebastian Beer.