Pessach

Der russische Pharao

Der russische Präsident Wladimir Putin Foto: picture alliance/dpa/TASS

Pessach

Der russische Pharao

Die biblische Geschichte und die ukrainische Realität: Eine ganz besondere Betrachtung zum Fest der Freiheit

von Michael Gold  05.04.2023 10:48 Uhr

Wir sind es gewohnt, dass Pessach das Fest der Freiheit genannt wird. Diese Botschaft ist so offensichtlich, dass sie keiner weiteren Erklärung bedarf. Aber das Pessachfest ist auch der Geburtstag des jüdischen Volkes, denn die Befreiung aus der Sklaverei ist eine wesentliche Voraussetzung für die Bildung der Nation.

Das ukrainische Volk durchläuft derzeit fast die gleiche Phase seiner Transformation. Hat die Nation vor dem 24. Februar 2022 existiert? Zweifellos. Aber der brutale Angriff Russlands auf die Ukraine ist so ein bedeutendes Ereignis, dass es einen maßgeblichen Einschnitt in der Geschichte des ukrainischen Volkes bedeutet.

zusammenbruch Nach dem Zusammenbruch der So­wjetunion schien es, als hätte die Ukraine großes Glück gehabt. Viele Republiken der ehemaligen Sowjetunion wurden in Bürgerkriege verwickelt. Die Unabhängigkeit der zweitwichtigsten Sowjetrepublik schien jedoch buchstäblich vom Himmel zu fallen, so die Dissidenten, die so viele Jahre für die Unabhängigkeit ihres Landes gekämpft hatten. 1991 wurde ein formell unabhängiger Staat mit eigener Hymne, Flagge, Parlament und einem gewählten Präsidenten gegründet.

Das Land zeichnete sich durch seinen multilateralen Charakter aus: gute (viele würden sagen »brüderliche«) Beziehungen zu Russland, gepaart mit einem umfassenden gegenseitigen Verständnis mit dem Westen. Leider hatte dies keine Auswirkungen auf den Kampf gegen Armut, Korruption und Vetternwirtschaft. Die Ukraine hatte sich zu einem schwachen Land mit einer gebildeten und aktiven Bevölkerung entwickelt, was gelegentlich zu sozialen und politischen Krisen führte.

»Der Allmächtige hat das Herz des Pharaos verhärtet« – in diesem Fall das des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin.

In den Jahren 2004 und 2005 erlebte das Land seinen ersten Maidan sowie zwischen 2013 und 2014 den zweiten, der als »Revolution der Würde« bekannt wurde. Jahr für Jahr blickten die Ukrainer mehr und mehr nach Westen, obwohl sie die meisten Aspekte der postsowjetischen Mentalität behielten. Der Prozess hätte so lange wie nötig dauern können. Identität lässt sich nicht über Nacht ändern, aber … Dann kam der Angriff Russlands. »Der Allmächtige hat das Herz des Pharaos verhärtet« – in diesem Fall das des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin.

verlust So wie der Pharao selbstmörderische Schritte unternahm, um die Juden nicht ziehen zu lassen, so klammerte sich Putin mit tödlichem Griff an die Ukraine. Die Komplexe des russischen Staatschefs liegen auf der Hand: Für ihn ist der Verlust der Ukraine gleichbedeutend damit, einen Schlussstrich unter den Zusammenbruch des russischen (Sowjet-)Reiches zu ziehen, das Gegenstand der Nostalgie des Kreml ist. Und wie der Pharao hat auch der russische Präsident den Sinn für die Realität verloren und unterschätzt den Willen der Ukrainer zur Unabhängigkeit. Das Ergebnis der Invasion und der Gewalt war vorhersehbar – die Ukrainer hassten alles, was mit der russischen Welt zu tun hatte.

Der russische Pharao rechnete nicht mit den unvermeidlichen »Plagen«, die über sein riesiges, in der imperialen Vergangenheit stecken gebliebenes Land hereinbrechen könnten. Sie zeigen Wirkung: Russland ist Spitzenreiter bei den gegen ein Land verhängten Sanktionen.
Es gibt noch einen weiteren Faktor, der die Geschichte des Pessachfestes mit der heutigen ukrainischen Realität verbindet: die Figur des Wolodymyr Selenskyj.

Die Ukrainer haben ihren eigenen Mo­sche. Und er ist Jude!

Die Ukrainer haben ihren eigenen Mo­sche. Und er ist Jude! Der russischsprachige Selenskyj wurde 2019 mit einem in der ukrainischen Politikgeschichte noch nie da gewesenen Ergebnis von 75 Prozent gewählt – dies war eine Sensation. Es widerlegte vor allem das russische Propaganda-Klischee von der Dominanz der »pro-nazistischen« Stimmung in der Ukraine.

bewertung Aber das war vor dem Krieg. Im vergangenen Jahr ist die Bewertung des jüdischen Präsidenten nicht unter 90 Prozent gefallen, was absolut beispiellos ist. Wie wir aus dem Wochenabschnitt Mischpatim wissen, murrten die Juden sogar über ihren unbestrittenen Führer Mosche, der 40 Tage lang aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwand. Selenskyj gönnt sich eine so lange Abwesenheit nicht, und es geht nicht nur um seine ukrainischen Landsleute.

Der ehemalige Schauspieler und Komiker ist zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten der Welt geworden. Seine Instagram-Seite hat 17,1 Millionen Follower (US-Präsident Joe Biden hat 17,6 Millionen). All dies garantiert aber nicht seine Wiederwahl im Jahr 2024 – wir wissen, dass auch Mosche nicht ins Gelobte Land eingezogen ist.

Wie die Pessachgeschichte bezeugt, bedeutet der Auszug aus Ägypten nicht die wahre, uneingeschränkte, 100-prozentige Freiheit. Die Juden haben 40 Jahre gebraucht, und es gibt keinen Grund zu glauben, dass der Weg der Ukraine in die europäische Familie nach dem Krieg mit Rosen bestreut sein wird. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Ukrainer entschlossen sind, diesen Weg zu gehen.

Der Autor ist Chefredakteur der Kiewer jüdischen Zeitung »Hadashot«.

Berlin

Statistik: Antisemitische Vorfälle in der Hauptstadt verdoppelt

Antisemitische Botschaften online wie offline sind gewaltvoller und enthemmter geworden

 20.05.2025

Berlin

Treiber Israelhass: Politisch motivierte Kriminalität massiv gestiegen

Schon die erste Kriminalitätsstatistik, die Innenminister Dobrindt (CSU) vorstellt, zeigt, dass er ein schwieriges Amt übernommen hat. Bei Straftaten mit politischem Hintergrund gibt es eine alarmierende Entwicklung

von Anne-Béatrice Clasmann  20.05.2025

Erfurt

Antisemitismus-Beschluss: Thüringer Linke geht auf Distanz zur Bundespartei

Der Erfurter Co-Parteichef Christian Schaft hält den Antisemitismus-Beschluss der Bundespartei für fatal und fordert eine kritische Auseinandersetzung

 20.05.2025

Israel

Deutscher Tourist in Tel Aviv festgenommen

Die Hintergründe

 19.05.2025

NS-Raubkunst

Doch keine Einsicht

Noch vor kurzem versprach Bayerns Kunstminister Markus Blume »Transparenz und Tempo«. Jetzt verweigert er den Erben des jüdischen Kunsthändlers Alfred Flechtheim die Akteneinsicht

von Michael Thaidigsmann  19.05.2025

ESC

Israel im Visier: Debatte um Publikumsvoting bei ESC entbrannt

Eine Musikshow wird zur Staatsaffäre: In Spanien schlagen die Wellen nach dem ESC-Finale hoch. Es geht unter anderem um das Publikumsvoting. Fragen kommen aber auch aus einem anderen Land

von Marek Majewsky  19.05.2025

Kommentar

Den Nachkommen der Schoa-Opfer kaltschnäuzig und nassforsch die Leviten gelesen

Ausgerechnet zum 60. Jubiläum der deutsch-israelischen Beziehungen kritisiert die ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann die Kriegsführung in Gaza, und das auch noch, ohne die Hamas zu erwähnen

von Esther Schapira  19.05.2025

Berlin

Hologramme gegen Judenhass

Nach den Massakern und Geiselnahmen der Hamas in Israel organisierte Nicolai Schwarzer eine Solidaritätsdemo für jüdisches Leben. Nun startet der Unternehmer sein nächstes Projekt

von Verena Schmitt-Roschmann  19.05.2025

Berlin

Henryk M. Broder: Das Urvertrauen in die Politik ist dahin

Es scheine, als lebten Regierungspolitiker »in einer eigenen Welt«, in der »sie die wahren Probleme ausblenden und deshalb auch nicht bearbeiten«, so der »Welt«-Kolumnist

 18.05.2025