Bilanz I

Der Pragmatiker

Am Wendepunkt: Sharon 2001 zu Besuch auf einem Militärposten im Jordantal Foto: dpa

Ariel Scharon war eine komplexe und widersprüchliche Persönlichkeit. Nirgends wurde das deutlicher als in seiner politischen Karriere. Als Landwirtschaftsminister in der ersten Likudregierung unter Menachem Begin 1977 nutzte er diesen relativ niedrigrangigen Kabinettsposten, um eine massive jüdische Präsenz im biblischen Judäa und Samaria voranzutreiben. Damit baute er seine politische Machtbasis aus und gewann Begins Herz.

Nach der Wiederwahl des Likud wurde Scharon Verteidigungsminister. Paradoxerweise war ein Hauptgrund für diese Ernennung, dass Begin, der ihn gleichermaßen bewunderte wie fürchtete, überzeugt war, dass Scharon der richtige Mann war, um den Abbau der jüdischen Siedlungen im Sinai und die Rückführung ihrer Bewohner erfolgreich zu bewerkstelligen, wie es der Friedensvertrag mit Ägypten von 1979 vorsah.

So kam es, dass binnen weniger Jahre der Architekt der jüdischen Besiedlung von Judäa und Samaria zum Zerstörer jüdischen Lebens im Sinai wurde – ein Vorgeschmack auf den einseitigen Abbau der Siedlungen im Gazastreifen 2005.

libanon Widersprüchlich war auch Scharons jahrzehntelanges Verhältnis zu den Palästinensern. Als Kommandeur der Südfront der Zahal machte er Anfang der 70er-Jahre gewaltsam den Versuch der PLO zunichte, Gaza in ein Sprungbrett für Terrorangriffe gegen Israel auszubauen. Doch im »Schwarzen September« 1970, als König Hussein von Jordanien die Palästinenser in einer besonders blutigen Konfrontation aus seinem Königreich vertrieb, kritisierte Scharon Israels Unterstützung des jordanischen Monarchen. Stattdessen plädierte er für eine Umwandlung Jordaniens in einen palästinensischen Staat. Das sollte die Palästinenser zufriedenstellen, damit Judäa und Samaria in israelischer Hand bleiben konnten.

Als Verteidigungsminister jagte Scharon 1982 die PLO aus dem Libanon, wo sie seit ihrer Vertreibung aus Jordanien ihre Basis hatte. Dahinter stand der Plan, die PLO als militärischen und politischen Faktor auszuschalten und damit den Weg freizumachen für eine mögliche Einigung zwischen Israel und den Bewohnern Gazas und des Westjordanlandes.

Dieser überambitionierte Plan scheiterte, und Scharon musste das Verteidigungsministerium quittieren, nachdem im September 1982 unter den Augen der Zahal christliche Milizen in Sabra und Schatila einige Hundert Palästinenser massakriert hatten. In den Folgejahren musste er sich mit einer Reihe weniger wichtiger Ministerien begnügen, bevor er 1999 die Führung des Likud von Benjamin Netanjahu übernahm und im Februar 2001 Ehud Barak bei den Wahlen besiegte.

Das war vier Monate, nachdem PLO-Chef Jassir Arafat seinen blutigen Terrorkrieg – schönrednerisch »Al-Aksa-Intifada« genannt – vom Zaun gebrochen hatte – die Antwort auf Baraks Offerte eines Palästinenserstaats auf 92 Prozent des Territoriums von Gaza und dem Westjordanland mit Ostjerusalem als Hauptstadt.

tempelberg Fürsprecher der Palästinenser behaupten, die Gewalt sei eine Reaktion auf Scharons Besuch am Tempelberg am 28. September 2000 gewesen. Nur wenige Israelis allerdings folgen dieser Lesart, und das mit gutem Grund. Erstens kam Scharons Besuch für die Palästinenser keineswegs überraschend, sondern war mit der PLO und der Autonomiebehörde abgesprochen.

Zweitens war die »Al-Aksa-Intifada« kein »spontaner« Volksaufstand, sondern eine vorher bereits geplante und akribisch organisierte Terrorkampagne. Sie brach auch nicht am Tag von Scharons Besuch aus – als nur eine Handvoll Palästinenser auf dem Tempelberg protestierte, von denen keiner getötet wurde –, sondern einen Tag später, auf ausdrückliche Anweisung Arafats und zum Leidwesen der palästinensischen Bevölkerung, die sich zu dem Zeitpunkt nach Jahren wirtschaftlicher Krise im Aufschwung befand und keinerlei Interesse hatte, diese Entwicklung zu unterminieren.

Gewählt wurde Scharon mit einem klaren Programm der Beendigung des Terrorkriegs. Zum Erstaunen aller aber reagierte er mit großer Zurückhaltung. Erst Ende 2002, als der Terrorismus einen neuen Höhepunkt erreicht hatte – allein im März wurden 126 Israelis ermordet, fast halb so viele wie in den 17 Monaten zuvor – und nachdem 29 Menschen bei einem Seder einem Massaker zum Opfer gefallen waren, begann Israel eine massive Gegenoffensive.

Dank ihrer konnte das Rückgrat der ausgedehnten terroristischen Infrastruktur gebrochen werden, die seit Arafats Machtübernahme sechs Jahre zuvor im Westjordanland aufgebaut worden war. Verstärkt wurde das durch die Abriegelung der Palästinensergebiete mit dem entstehenden Sicherheitszaun. Dessen Errichtung führte zu einem deutlichen Rückgang der Terroranschläge: 2004 starben 55 Israelis durch Selbstmordattentate, verglichen mit 144 im Jahr davor.

gaza Trotz dieses Rückgangs der Gewalt und ungeachtet von Arafats Tod im November 2004 und seiner Ersetzung durch den angeblich moderateren Mahmud Abbas, zweifelte Scharon an der Bereitschaft der Palästinenserführung zum Frieden. Den Status quo zwischen beiden Seiten aber fand er, der sich offen für eine Zweistaatenlösung ausgesprochen hatte und die von den USA, Russland und der EU vorgelegte Roadmap zum Frieden unterstützte, zutiefst unbefriedigend.

Scharons Lösung des Dilemmas war die einseitige Zerstörung der rund 20 israelischen Siedlungen im Süden des Gazastreifens und die Rückführung ihrer 10.000 Bewohner 2005. Diese Operation, die als Auftakt zu einer ähnlichen, breiter angelegten im Westjordanland gedacht war, fand weitgehende Unterstützung in der israelischen Öffentlichkeit, spaltete aber den Likud, dessen Vorsitz Scharon daraufhin niederlegte. Er gründete eine neue Partei, Kadima, und setzte für den März 2006 Neuwahlen an. Den Sieg seiner neuen Formation erlebte er nicht mehr. Zwei Schlaganfälle ließen Ariel Scharon ins Koma fallen, aus dem er nie wieder erwachen sollte.

Ariel Scharon, Sohn von Anhängern der Arbeitspartei, gründete den rechten Likud und beendete so die jahrzehntelange Dominanz der Linken in der israelischen Politik, nur um später seine Gründung zu spalten. Der Architekt der jüdischen Siedlungen in Judäa und Samaria entwurzelte jüdische Gemeinschaften in Sinai und Gaza, mit dem verlauteten Ziel, im Westjordanland dasselbe zu tun. Der vermeintliche Angstgegner der Palästinenser wurde zu einem von Israels führenden Vertretern der Zweistaatenlösung.

Efraim Karsh ist Professor für Politikwissenschaft an der Bar-Ilan-Universität und für Nahost- und Mittelmeerstudien am King’s College London.

Den Haag

Erste Entscheidung in Klage gegen Deutschland am Dienstag

Im Verfahren Nicaragua gegen Deutschland will der Internationale Gerichtshof am Dienstag seinen Beschluss zu einstweiligen Maßnahmen verkünden

 26.04.2024

Meinung

Steinmeier auf Kuschelkurs mit einem Terrorfreund

Der Bundespräsident untergräbt mit seiner Schmeichelei gegenüber Recep Tayyip Erdogan einmal mehr Deutschlands Staatsräson

von Nils Kottmann  26.04.2024

Berlin

»Menschen haben nach dem 7. Oktober ihr wahres Gesicht gezeigt«

Ahmad Mansour wundert sich nicht über die Schließung zweier Jugendzentren in Berlin

von Sophie Albers Ben Chamo  26.04.2024

Diplomatie

USA, Großbritannien und Kanada verhängen Sanktionen gegen Iran

Es handelt sich um eine Reaktion auf den iranischen Angriff auf Israel

 26.04.2024

USA

Antiisraelische Proteste an Unis: Abschlussfeier abgesagt

An der Ostküste werden mehr als hundert Festnahmen gemeldet

 26.04.2024

Berlin

Polizei verbietet antiisraelisches »Palästina-Protestcamp«

Die Teilnehmer hätten Straftaten begangen, darunter auch Volksverhetzung, sagt die Polizei

 26.04.2024

Köln

Wallraff-Preis für israelische und palästinensische Initiativen

Mit gemeinsamen Aktionen setzen sich »Women of the Sun« und »Women Wage Peace« für Frieden ein

 26.04.2024

Berlin/Gaza

Brief an Hersh Goldberg-Polin

Lieber Hersh, wir kennen uns nicht – und doch sind unsere Lebenswege verbunden ...

von Ruben Gerczikow  26.04.2024

Berlin

Zentralrat der Juden kritisiert deutsche UNRWA-Politik

Josef Schuster: »Die Bundesregierung tut sich mit dieser Entscheidung keinen Gefallen«

 26.04.2024