Gesellschaft

Das »A-Wort«

Zweimal wurde die Ulmer Synagoge in den vergangenen Wochen beschädigt. Die Polizei schließt »einen antisemitischen Hintergrund« nicht aus.

Im Juni hat der bekannte Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Patrick Bahners, einen Text veröffentlicht, den er mit »Die Angst vor dem A-Wort« überschrieben hat. Darin behauptet er, dass es in Deutschland so etwas wie ein Meinungskartell gebe, das jeden Israel-Kritiker als Antisemiten abstempele. Die Furcht vor dem »A-Wort« schade unserer Meinungsfreiheit.

Das »A-Wort« hat auch für den Zentralrat der Juden in Deutschland die politische Arbeit im zurückliegenden Jahr bestimmt. Allerdings nicht, weil wir uns vor dem Begriff Antisemitismus fürchten. Und auch nicht, weil wir den Begriff erfolgreich einsetzen, um unsere Kritiker und Gegner mundtot zu machen.

debatte Das Thema hat uns aus zwei Gründen dauerhaft begleitet: zum einen aufgrund von Ereignissen, zum anderen, weil eine breite öffentliche Debatte über Antisemitismus begonnen hat. Um es ähnlich provokativ wie Patrick Bahners auszudrücken: Es geht nicht um Angst vor dem »A-Wort«, sondern um Angst vor Antisemitismus.

Immer wieder berichten unsere Gemeindemitglieder von Judenhass, der ihnen im Alltag widerfährt. Viele Gemeinden erhalten drastische antisemitische Zuschriften. Eine Verunsicherung greift in der jüdischen Gemeinschaft um sich.

Das zu leugnen, wäre fahrlässig. Diese Sorgen nehme ich sehr ernst. Dennoch kann ich auch eine positive Tendenz erkennen: Nach meinem Eindruck wächst die öffentliche Aufmerksamkeit für das Bedrohungsgefühl, das wir empfinden. Antisemitismus wird wieder stärker als Problem der gesamten Gesellschaft wahrgenommen. Vor allem über eine Form des Judenhasses, die bislang oft ausgeblendet wurde, wird gesprochen: den israelbezogenen Antisemitismus.

urteil Diese Debatte ist Ende April in Gang gekommen. Noch als im Januar das Oberlandesgericht Düsseldorf ein Urteil des Amtsgerichts Wuppertal bestätigte, wonach dem Brandanschlag auf die Bergische Synagoge Wuppertal kein antisemitisches Motiv zu erkennen sei, rief das keinerlei kritische Reaktionen außerhalb der jüdischen Community hervor.

Denn die abstruse Haltung, dass Palästinenser Opfer der israelischen »Besatzungspolitik« seien und daher eigentlich indirekt Israel schuld sei an Gewalttaten gegen Juden oder jüdische Einrichtungen, ist in Deutschland leider immer weiter verbreitet.

Auch als im April jüdische Eltern ihren Sohn von einer Schule in Berlin-Friedenau nahmen, weil er dort fortgesetzt von muslimischen Mitschülern aggressivem Mobbing ausgesetzt war, waren die Reaktionen gespalten. Während auf der einen Seite ehrliches Entsetzen herrschte, gab es auf der anderen Seite einen Leserbrief von Eltern der Schule, die darauf hinwiesen, dass aufgrund des Nahostkonflikts zwischen »Juden und Arabern« keiner vor »religiös motivierten Auseinandersetzungen« gefeit sei.

expertenbericht Wenn wir uns von jüdischer Seite über diese Form des Antisemitismus beklagten, fand dies lange Zeit kaum Widerhall. Das hat sich geändert. Was auch an dem Ende April veröffentlichten Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus liegt. Darin wird mit Studien belegt, dass der israelbezogene Antisemitismus bei 40 Prozent der Bevölkerung anzutreffen ist. Es kommen in dem Bericht dankenswerter Weise auch Juden selbst zu Wort. Sie geben wieder, wie häufig sie mit Israelis gleichgesetzt oder für die israelische Politik verantwortlich gemacht werden.

Kurz nach der Veröffentlichung des Expertenberichts entschlossen sich WDR und Arte, eine Dokumentation, die genau diesen israelbezogenen Antisemitismus zum Thema hatte, nicht auszustrahlen. War der Bericht des Expertenkreises bisher vor allem in Fachkreisen wahrgenommen worden, so erhielt das Thema plötzlich eine breite Aufmerksamkeit, unter anderem auch, weil auf Druck aus unserer Community die Arte-Dokumentation doch gezeigt, mit einem Faktencheck versehen und von einer teilweise seltsam besetzten Talkshow begleitet wurde.

Und erst jüngst hatte Arte weniger Probleme, eine völlig einseitige pro-palästinensische Reportage auszustrahlen. Wir haben auch dies öffentlich kritisiert, und siehe da: Unsere Kritik stieß auf mehr Interesse als früher.

definition Das alles beseitigt nicht den existierenden Antisemitismus. Doch mir scheint, in den Köpfen ist etwas in Bewegung gekommen. Wir werden dies nutzen, um auf politischer Ebene ebenfalls Dinge in Bewegung zu bringen. Eine offizielle Antisemitismus-Definition, die den israelbezogenen Antisemitismus berücksichtigt, muss so in Deutschland implementiert werden, dass sie für Polizei und Strafverfolgungsbehörden eine verbindliche Richtschnur bildet. Ein eigener Beauftragter auf Bundesebene sollte dafür sorgen, dass die Bekämpfung des Antisemitismus verstetigt und intensiviert wird.

Haben wir manchmal Angst vor Antisemitismus? Ja. Aber wir nutzen die Meinungsfreiheit in diesem Land, um dagegen anzukämpfen. Und auch, wenn manche sich das wünschen – bei Antisemitismus werden wir eines niemals tun: schweigen.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien alles Gute und Gesundheit für das neue Jahr! Schana Towa umetuka!

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Jerusalem

»Terror-Anführer können nirgendwo mehr sicher sein«

Netanjahu: Der Luftschlag hat die Hamas-Führer genau an dem Ort getroffen, an dem sie am 7. Oktober 2023 gefeiert haben

von Christoph Arens  09.09.2025

Zentralrat

Empathie mit Juden hat »dramatisch abgenommen«

Die im November 2024 erfolgte Befragung jüdischer Gemeinden hatte auch ergeben, dass fast die Hälfte der Gemeinden nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Krieg in Gaza von antisemitischen Vorfällen betroffen waren

 09.09.2025

Der Rest der Welt

Warum ich wegen Annalena Baerbock »Sex and the City« gucke

Die Ex-Außenministerin ist Präsidentin der UN-Generalversammlung und zeigt auf Instagram ihr Carrie-Brad­shaw-mäßiges Leben in New York

von Katrin Richer  09.09.2025

London

Israels Präsident Herzog besucht Großbritannien

Der Besuch des israelischen Präsidenten erfolgt auf Einladung jüdischer Organisationen in einer spannungsgeladenen Zeit

 09.09.2025

Rechtsterrorismus

Ex-Innenminister Beckstein: NSU-Morde »größte Niederlage des Rechtsstaats«

25 Jahre nach dem ersten NSU-Mord zieht der frühere bayerische Innenminister Beckstein ein gemischtes Fazit zur Aufklärung. Er spricht außerdem über weitere mögliche Mitwisser - und räumt Fehler ein

von Hannah Krewer  09.09.2025

Tunesien

Feuer an Bord eines Schiffs der »Gaza Sumad Flotilla«

Die Aktivisten sprechen von einem israelischen Drohnenangriff. Doch die tunesischen Behörden glauben nicht an diese Theorie

 09.09.2025

Washington D.C.

Demokraten zeigen angebliches Trump-Schreiben an Epstein

Ein angebliches Geburtstagsschreiben Donald Trumps an den Sexualstraftäter sorgt für Aufsehen. Jetzt stellen Demokraten das fragliche Dokument ins Netz. Die Republikaner zürnen

 09.09.2025

Berlin

Polizei zählt 899 antisemitische Delikte in drei Monaten

Die Linken-Politikerin Bünger fordert mehr Schutz für jüdisches Leben und warnt zugleich vor einer »Kriminalisierung« von Gaza-Protesten

 09.09.2025

Berlin/Ulm

Ron Prosor: Angriff auf israelischen Rüstungskonzern Elbit in Ulm ist ein terroristischer Akt

In Ulm ist eine israelische Firma angegriffen worden. Die Polizei vermutet einen politischen Hintergrund. Nun äußert sich der Botschafter des Landes

 09.09.2025