Strategie

Ägyptische Spielchen

Palästinenser warten am Grenzübergang Rafah im südlichen Gazastreifen – manche auf die Ausreise, andere auf Hilfe (16. Oktober). Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Auf den ersten Blick sahen sie aus wie ein Schwarm kleiner weißer Vögel. Doch beim näheren Hinsehen wurde klar, dass es sich um Tausende von Flugblättern handelte. Abertausende. Abgeworfen am Freitag von der israelischen Armee (IDF) über dem Gazastreifen, um der zivilen palästinensischen Bevölkerung mitzuteilen: »Flüchtet sofort!« Der Aufruf kam nach den blutigen Massakern mit mehr als 1300 Toten, welche die Terrororganisation Hamas vor einer Woche in israelischen Gemeinden anrichtete.

Die IDF forderte damit mehr als eine Million Menschen auf, ihre Häuser im nördlichen Teil der Enklave innerhalb von 24 Stunden zu verlassen und Richtung Süden zu fliehen. Während massive Vergeltungsangriffe aus der Luft bereits seit Tagen geflogen werden, scheint eine israelische Bodenoffensive kurz bevorzustehen, um »die Hamas-Terrorgruppe zu vernichten«, wie das israelische Militär ankündigte.

Hamas rief Einwohner auf, in ihren Häusern zu bleiben

Die Hamas, die den Gazastreifen regiert, rief die Einwohner auf, die Flugblätter zu ignorieren und in ihren Häusern zu bleiben. Doch viele Familien machen sich mit dem, was sie tragen können, auf den bitteren Weg. Die Vereinten Nationen bezeichneten eine Evakuierung in dieser kurzen Zeit als »unmöglich«. Sie würde eine Tragödie in eine Katastrophe verwandeln. Doch die Frist der »24 Stunden« hat die IDF längst verstreichen lassen.

Dennoch steht Ägypten unter wachsendem Handlungsdruck. Das Land ist der einzige Nachbar, der an Gaza angrenzt. Nach den brutalen Angriffen der Hamas hatte Israel seine beiden Grenzübergänge zur Enklave abgeriegelt und beendete zunächst jegliche Versorgung mit Strom, Wasser und Treibstoff. Die Grenze Rafah zwischen Gaza und Ägypten ist somit der einzige Weg, um Menschen aus dem Streifen herauszuholen und Vorräte hinzubringen. Das Wasser in Südgaza sei nach Angaben des Militärs mittlerweile wieder angestellt.

Amerikanische Beamte drängen darauf, dass die Ägypter durch Rafah einen sicheren Korridor für Zivilisten einrichten. Mittlerweile wurde bestätigt, dass Ausländern mit Wohnsitz in Gaza die Ausreise über Rafah ermöglicht wird.

Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge

Doch vor weiteren Verpflichtungen hat Ägypten Angst. Vor allem ist man in Kairo besorgt, dass Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge in das Land am Nil strömen. In dem lediglich 365 Quadratkilometer großen Gazastreifen leben rund 2,3 Millionen Menschen, viele von ihnen in großer Armut. Am vergangenen Donnerstag beteuerte der ägyptische Präsident Abdel Fattah el-Sisi, dass Gerüchte, Ägypten wolle seinen palästinensischen Nachbarn nicht helfen, unwahr seien. »Wir stellen sicher, dass medizinische und humanitäre Hilfe in dieser schwierigen Zeit den Streifen erreicht.«

Kairo will verhindern, dass Jordanien die Krise nutzen und zu Ägyptens Problem machen könnte.

El-Sisi schränkte jedoch ein, dass die Fähigkeit seines Landes, zu helfen, Grenzen habe. »Natürlich haben wir Mitgefühl. Aber wir müssen trotzdem immer unseren Verstand einsetzen, um Frieden und Sicherheit auf eine Weise zu erreichen, die uns nicht viel zu viel kostet«, sagte er und hob hervor, dass Ägypten bereits neun Millionen Migranten beherbergt. Zudem gebe es die Sorge, dass durch eine generelle Grenzöffnung »die palästinensische Sache eines eigenen Staates« gefährdet sei. »Deshalb ist es wichtig, dass das palästinensische Volk standhaft und präsent auf seinem Land bleibt«, sagte el-Sisi.

Obwohl Kairo regelmäßig bei Konflikten zwischen Israel und Gaza vermittelte, lehnte die dortige Regierung es stets ab, die Grenze für palästinensische Flüchtlinge zu öffnen. Allem Anschein nach wird es auch diesmal nicht geschehen, denn man befürchtet zudem, dass Jerusalem die Krise nutzen könnte, um den Gaza-Konflikt auch zum Problem des Nachbarn zu machen. El-Sisi will das unter keinen Umständen: »Ägypten wird nicht zulassen, dass die palästinensische Sache auf Kosten anderer Parteien geregelt wird.«

Die Lage an der Grenze zum Libanon verschärft sich

Währenddessen verschärft sich die Lage an der Grenze zu einem anderen Nachbarn: Libanon. An Israels Nordfront nehmen die Spannungen mit jedem Tag zu. Die Hisbollah hatte am frühen Sonntag damit begonnen, Panzerabwehrraketen auf israelische Militärziele sowie eine israelische Gemeinde nahe der Grenze abzufeuern. Ein Israeli wurde von den Hisbollah-Geschossen getötet, mehrere Menschen verletzt.

Darüber hinaus gaben Hamas-Truppen im Libanon an, 20 Raketen gen Israel geschossen zu haben. Innerhalb weniger Tage nach den Hamas-Massakern evakuierte die Armee fast alle Bewohner der landwirtschaftlichen Gemeinden im Umkreis von vier Kilometern um den Gazastreifen.

Am Montag wurden auch Ortschaften im Norden des Landes geräumt. Die IDF und das israelische Verteidigungsministerium erklärten, dass sie Bewohner aus 28 Gemeinden entlang der Grenze zum Libanon in Sicherheit bringen würden, die in einem Umkreis von zwei Kilometern vom Grenzzaun entfernt sind. Die Bewohner würden in Hotels und Gästehäuser gebracht, die von der israelischen Regierung bezahlt werden.

Dass sich Israel auf eine monatelange Bodenkampagne in Gaza vorbereite, berichteten lokale Medien am Wochenbeginn. Auch ägyptische Quellen sprechen davon. Die sagen auch, dass Jerusalem angeblich Kairos Bemühungen, irgendeine Art von Deeskalation zu vermitteln, bislang zurückgewiesen hätte. Man wolle der Hamas einen vernichtenden Schlag versetzen, bevor man über Verhandlungen und eine eventuelle Feuerpause nachdenke. Aus dem Büro des Premierministers Benjamin Netanjahu kam am Montag eine klare Botschaft: »Es gibt keinen Waffenstillstand.«

Israel

Netanjahu warnt Türkei

Israel will die Zusammenarbeit mit Griechenland und Zypern stärken. Gleichzeitig richtet der Premier scharfe Worte an Ankara

 23.12.2025

New York

Mitglieder von Mamdanis Team haben Verbindungen zu »antizionistischen« Gruppen

Laut ADL haben mehr als 80 Nominierte entsprechende Kontakte oder eine dokumentierte Vorgeschichte mit israelfeindlichen Äußerungen

 23.12.2025

Düsseldorf

Reul: Bei einer Zusammenarbeit mit der AfD wäre ich weg aus der CDU

Die CDU hat jede koalitionsähnliche Zusammenarbeit mit der AfD strikt ausgeschlossen. Sollte sich daran jemals etwas ändern, will Nordrhein-Westfalens Innenminister persönliche Konsequenzen ziehen

 23.12.2025

Interview

»Diskrepanzen zwischen warmen Worten und konkreten Maßnahmen«

Nach dem Massaker von Sydney fragen sich nicht nur viele Juden: Wie kann es sein, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt? Auch der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, sieht Defizite

von Leticia Witte  22.12.2025

Washington D.C.

Kritik an fehlenden Epstein-Dateien: Minister erklärt sich

Am Freitag begann das US-Justizministerium mit der Veröffentlichung von Epstein-Akten. Keine 24 Stunden später fehlen plötzlich mehrere Dateien - angeblich aus einem bestimmten Grund

von Khang Mischke  22.12.2025

Australien

Behörden entfernen Blumenmeer für die Opfer von Bondi Beach

Die Regierung von New South Wales erklärt, man habe sich vor dem Abtransport der Blumen eng mit der jüdischen Gemeinde abgestimmt

 22.12.2025

Sydney

Attentäter warfen Sprengsätze auf Teilnehmer der Chanukka-Feier

Die mutmaßlichen Attentäter Naveed und Sajid Akram bereiteten sich auf das Massaker vor. Ihre Bomben explodierten nicht

 22.12.2025

New York

Tucker Carlson ist »Antisemit des Jahres«

Die Organisation StopAntisemitism erklärt, ausschlaggebend seien Beiträge, in denen er erklärten Judenhassern, Holocaustleugnern und extremistischen Ideologen eine große Bühne geboten habe

 22.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025