8. Mai

Abwehr der Erinnerung

Historischer Ort in Berlin-Karlshorst: Hier wurde am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Foto: dpa

Manche Offensichtlichkeiten wirken eingängiger, wenn man sie mit Zahlen unterfüttert. So zeigte eine jüngst im Auftrag der Wochenzeitung »Die Zeit« durchgeführte Umfrage, dass die Hälfte der Deutschen sich einen »Schlussstrich« unter die NS-Vergangenheit wünscht. Das ist weder neu noch überraschend – dramatisch bleibt es freilich trotzdem, weil man sich zugleich intensiv einem Geschichtsbild hingibt, das eine der größten Lebenslügen der Bundesrepublik ist: die NS-Vergangenheit aufgearbeitet zu haben.

Sicher, es gibt seit gut drei Jahrzehnten zaghafte Tendenzen auf der Ebene des offiziellen Gedenkens, die man als Beginn einer Aufarbeitung der Vergangenheit deuten könnte: vom Holocaust-Mahnmal über die Einrichtung des 27. Januar als Gedenktag bis hin zu Gedenkreden hochrangiger Politikerinnen und Politiker.

SCHATTEN Aber wo etwas Licht ist, ist bekanntlich mindestens genauso viel Schatten. Nur dass man den erinnerungspolitischen Schatten in Deutschland durch ein übertrieben ausgeleuchtetes Licht gern zum Verschwinden bringen würde.

Das so oft beschworene Paradigma einer »Erfolgsgeschichte« ist deshalb auch letztlich nicht mehr als eine geschichtspolitische Illusion.

Denn während auf der einen Seite durchaus einem kleinen Teil der Gesellschaft ein hohes Maß an selbstkritischem Reflexionsniveau in der Erinnerungspolitik zu attestieren ist, gilt dies umgekehrt für die große Mehrheit der Deutschen nicht. Das so oft beschworene Paradigma einer »Erfolgsgeschichte« ist deshalb auch letztlich nicht mehr als eine geschichtspolitische Illusion, an die man nur glauben kann, wenn man die gesamtgesellschaftliche Perspektive ausblendet.

Nimmt man die unterschiedlichen Formen der Erinnerung, aber auch des Gedenkens an den Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Geschichte in den Blick, stellt man fest, dass es immer wieder zu Spannungen zwischen den Formen öffentlicher Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der privaten Haltung der Menschen gekommen ist. Auch wenn sich die Konstellationen im Laufe der Geschichte entlang der einzelnen Erinnerungsfelder immer wieder gewandelt haben, eröffnet sich ein Konfliktfeld zwischen allgemeiner und partikularer Erinnerung.

AUSEINANDERSETZUNG Als allgemein kann dabei gelten, was im öffentlichen Raum und als offizielle Form der Erinnerung installiert und etabliert wurde, von Gedenkorten und Gedenkveranstaltungen über die (teilweise erfolgte) juristische Auseinandersetzung bis hin zu politisch-programmatischen Reden.

Als partikular müssen die Tradierungen innerhalb von Familienerzählungen gelten, die individuellen Erlebnisse aus Berichten der Eltern- oder Großelterngeneration, also das private Geschichtsbild, in dem die Intention der Reinwaschung der eigenen Familienbiografie unter zumeist völliger Ausblendung der tatsächlichen Opfer dominiert, an deren Stelle man sich selbst fantasiert.

Der Bezug auf einen deutschen Opfermythos war von Beginn an nahezu Konsens.

Die Auseinandersetzung um den Antisemitismus und die Massenvernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen war in der bundesrepublikanischen Geschichte immer konfliktreich – nicht zuletzt wegen der weitreichenden Integration der Nazitätergeneration in die Bundesrepublik, bis hinein in höchste politische Ämter.

Der Bezug auf einen deutschen Opfermythos war aber zugleich von Beginn an nahezu Konsens, öffentlich wie privat. Dies beginnt in den frühen Debatten im Deutschen Bundestag um die Frage der Straffreiheitsgesetze und die Selbstinszenierungen besonders in Spielfilmen der 50er- und 60er-Jahre, wie Hunde, wollt ihr ewig leben, Des Teufels General, Die Brücke und andere, und wird erst teilweise gebrochen durch die Serie Holocaust und später durch Schindlers Liste und Das Leben ist schön, aber auch massiv retardiert durch Die Gustloff, Der Untergang, Unsere Mütter, unsere Väter oder Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer.

TÄTERSCHAFT Noch während sich in den 50er- und 60er-Jahren die politischen Parteien und später auch die Außerparlamentarische Opposition heiße Gefechte um die Frage der Täterschaft lieferten, war die Unterstellung, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung passiv zu Opfern geworden sei, insbesondere die späteren Vertriebenen aus den vormals von den Deutschen eroberten Territorien Polens, der Tschechoslowakei und anderer osteuropäischer Staaten, nahezu immer Konsens in der bundesdeutschen Geschichte. Der Opfermythos der Deutschen gehört zum Gründungsfundament der Bundesrepublik.

Der Opfermythos der Deutschen gehört zum Gründungsfundament der Bundesrepublik.

Entgegen allen Proklamationen bezüglich einer angeblichen Erfolgsgeschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Geschichte hat es eine ernsthafte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit faktisch nur rudimentär gegeben. Während nun der Ruf nach einem geschichtsrevisionistischen »Schlussstrich« immer lauter wird, steht die Bundesrepublik faktisch erst ganz am Anfang einer kritischen Auseinandersetzung.

Denn die deutsche Gesellschaft ist über die Jahrzehnte hinweg aus der Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus zur Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik geworden, die durch antisemitische Projektionen und ethnische Selbstviktimisierungsfantasien zusammengehalten wird.

Der Autor ist Politikwissenschaftler. Kürzlich erschien sein Buch »Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern«.

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