Essay von Yehuda Bauer

90 Minuten Tarnsprache

Vor 80 Jahren, am 20. Januar 1942, fand im Haus Am Großen Wannsee 56-58 eine von Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes der SS, einberufene Konferenz statt. Eigentlich hätte sie schon am 9. Dezember 1941 tagen sollen – Am Kleinen Wannsee 16. Mit der Zusammenkunft hoher NS-Würdenträger sollte die Vernichtung der Juden im deutschem Machtbereich, die zu diesem Zeitpunkt längst begonnen hatte, auch politisch und praktisch besprochen werden.

Doch am 4. Dezember wurde die Konferenz erst einmal verschoben. Einen Tag später, am 5. Dezember 1941, begann die erste große sowjetische Gegenoffensive vor Moskau – man war in Berlin mit anderem beschäftigt. Am 7. Dezember griffen die Japaner die USA in Pearl Harbor an, vier Tage später erklärte Hitler den Vereinigten Staaten den Krieg.

TAGEBUCH Doch die administrative Notwendigkeit einer Besprechung war für das Reichssicherheitshauptamt von großer Wichtigkeit. Heydrichs Vortrag bei der Wannsee-Konferenz beinhaltete eine klare Anspielung an eine direkte Einbindung Hitlers in die Vorbereitungen.

Die administrative Notwendigkeit einer Besprechung war für das Reichssicherheitshauptamt von großer Wichtigkeit.

Am 12. Dezember 1941 hielt Hitler in der Reichskanzlei vor dem inneren Zirkel von Gauleitern und anderen wichtigen Nazi-Persönlichkeiten eine lange Rede. Das Mitschreiben war streng verboten.

Dennoch notierte Goebbels nach der Rede in seinem Tagebuch eine detaillierte Beschreibung der Rede. Zur Sprache gekommen war offenbar unter anderem das sogenannte »Judenproblem«. Hitler, so Goebbels, habe von seiner »Prophezeiung« im Januar 1939 im Reichstag gesprochen, bei der er die Vernichtung der »jüdischen Rasse« in Europa im Falle eines Weltkriegs angekündigt hatte. Jetzt, so Hitler, müsse man mit den Juden »reinen Tisch« machen.

Das war eigentlich nichts Neues, der Massenmord an den Juden hatte ja sofort nach dem deutschen Einfall in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 (dem Unternehmen »Barbarossa«) begonnen. Sechs Monate später waren bereits sehr viele Juden in den eroberten Gebieten ermordet worden.

TEILNEHMER Warum dann also die Wannsee-Konferenz? Die Antwort liegt im Willen Heydrichs und des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, die SS als alleiniges Organ der Judenvernichtung zu etablieren. In der komplizierten Machtstruktur Nazideutschlands musste dafür erst die Zustimmung der betroffenen Ämter eingeholt werden.

Ziel der Konferenz war es also, den Massenmord an den Juden – nur an den Juden, nicht an den anderen Opfern Nazi­deutschlands – in Zusammenarbeit mit den anderen Machtzentren als eine Unternehmung der SS zu erwirken.

Der Konferenzort war bereits 1940 vom Sicherheitsdienst der SS, dem SD, erworben worden. Die Teilnehmer waren teils hohe SS-Offiziere, die im Baltikum und in Polen eingesetzt waren und als »Heydrichs Leute« angesehen werden können.

»Man war sich einig: Niemandem kam es in den Sinn, die Massenvernichtung eines ganzen Volkes zu hinterfragen.«

Yehuda Bauer

Außerdem eingeladen waren Vertreter der Parteikanzlei Hitlers, des Auswärtigen Amtes, des Reichsjustizministeriums, des Vierjahresplans (Vertreter Görings), des Goebbelsschen Propagandaministeriums, von Rosenbergs baltischem Ost-Ministerium und von der Generalgouvernement-Regierung im besetzten Polen.

Hochinteressant ist, welche Ämter und Organisationen nicht vertreten waren. Hier muss man in erster Linie die Wehrmacht nennen, zudem die Reichsbahn, welche die Juden in den Tod transportieren sollte. Bis dahin wurden ja die Opfer, hauptsächlich in eroberten Gebieten der Sowjetunion, an Ort und Stelle ermordet. Warum diese beiden Ämter nicht teilgenommen haben, ist nicht klar dokumentiert. Mit der Wehrmacht wurde noch vor der Operation »Barbarossa« eine Abmachung getroffen, derzufolge die Behandlung der »Judenfrage« als SS-Angelegenheit definiert und der Wehrmacht – mit deren voller Zustimmung – entzogen wurde.

WEHRMACHT Die Zusammenarbeit der beiden Verbände war ohnehin mehr als zufriedenstellend, zumindest vom SS-Standpunkt aus gesehen. Teile der Wehrmacht nahmen am Vernichtungsprozess aktiven Anteil, und die radikale antisemitische Einstellung der meisten einfachen Landser ist reichlich belegt. Man darf also davon ausgehen, dass sich die Beteiligung der Wehrmacht an der Wannsee-Konferenz erübrigte.

Man darf auch annehmen, dass die Wehrmacht an einer solchen Konferenz nicht hätte teilnehmen wollen. Wir wissen nicht, ob das OKW, das Oberkommando der Wehrmacht, von Heydrich informiert wurde. Was die Reichsbahn anbelangt, war das zuständige Ministerium von geringer innenpolitischer Bedeutung. Sein Leiter, Albert Ganzenmüller, war zudem durchaus bereit, allen Wünschen der SS, soweit irgendwie machbar, nachzukommen.

Die Wannsee-Konferenz dauerte nur rund 90 Minuten. Knapp eine Stunde davon nahmen allein die Darlegungen Heydrichs in Anspruch. Man war sich einig – niemandem kam es in den Sinn, die Massenvernichtung eines ganzen Volkes zu hinterfragen.

EICHMANN Das von Adolf Eichmann angefertigte Protokoll der Konferenz ist kaum wörtlich zu verstehen. Das Vernichtungssystem wurde von Heydrich falsch dargestellt. Man sprach von separaten Kolonnen von Männern und Frauen, die straßenbauend von Westen nach Osten geführt werden sollten, wobei viele sterben würden und die Übriggebliebenen dann vernichtet werden sollten.

Von Kindern und Alten war überhaupt nicht die Rede. Das alles war Tarnsprache, denn im Januar 1942 wusste man schon, wie der Mord vonstattengehen sollte. Im ersten im besetzten Polen errichteten Vernichtungslager in Chelmno hatte man schon am 8. Dezember 1941 angefangen, Juden zu vergasen.

Eichmann erzählte bei seinem Prozess in Jerusalem, Heydrich sei mit dem Resultat der Konferenz höchst zufrieden gewesen. Es sei Cognac getrunken worden, und die Herren hätten untereinander klar und deutlich von praktischen Wegen, die Juden zu ermorden, gesprochen.

Die Tafel mit den Zahlen der zu ermordenden Juden war der jüdischen Reichsvereinigung in Berlin abgepresst worden.

Die Tafel mit den Zahlen der zu ermordenden Juden war der jüdischen Reichsvereinigung in Berlin abgepresst worden. Ob noch eine zweite Liste mit der Anzahl der Juden in der ganzen Welt existierte, ist bislang von der Forschung nicht klargestellt worden. Bei der Liste in Wannsee kann man die Zahl der Juden im unbesetzten Frankreich sehen – von 700.000 ist die Rede. Das heißt also, dass Französisch-Nordafrika in der »Endlösung« mit inbegriffen war.

Die Wannsee-Konferenz (das Protokoll derselben wurde 1947 im Auswärtigen Amt gefunden) ist wichtig. Sie bietet uns einen Einblick in die Politik der Nazis. Der Entschluss, die Juden zu ermorden, war aber schon viel früher gefasst worden. Bei der Wannsee-Konferenz ging es eher darum, wie genau man das bewerkstelligen konnte.

Yehuda Bauer wurde 1926 in Prag geboren. Mit seiner Familie emigrierte er 1939 über Polen, Rumänien und die Türkei ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Als Professor für Holocaust-Studien lehrte der israelische Historiker mit Schwerpunkt Schoa-Erforschung in Jerusalem und den USA. Von 1996 bis 2000 leitete Bauer das International Centre for Holocaust Studies der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und ist dort seitdem wissenschaftlicher Berater. Zudem ist Bauer der (aktive) Ehrenvorsitzende der International Alliance for Holocaust Remembrance (IHRA).

Frankfurt am Main

Israelfeindliche Aktivisten bedrohen Uni-Präsidenten

Der Präsident der Goethe-Universität hatte eine Kooperationsvereinbarung mit der Universität Tel Aviv unterzeichnet und geriet deshalb ins Visier der Aktivisten. Es ist nicht der erste Skandal auf dem Campus

 24.10.2025

Berlin

Gratis-Falafel: Restaurant »Kanaan« reagiert auf Vorfall im »K-Fetisch«

Die Aktion dauert bis 16.00 Uhr an. Es sei ein »Friedenszeichen in Zeiten des Hasses«, sagen die Betreiber

 24.10.2025

Meinung

Warum die UNRWA seit 77 Jahren den Frieden in Nahost blockiert

Das UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser verursacht erhebliche Probleme. Daher gibt es nur einen Weg

von Jusek Adlersztejn  24.10.2025

Internationaler Gerichtshof

Persilschein für die UNRWA

Der IGH sieht Israel in der Pflicht, mit dem umstrittenen Palästinenser-Hilfswerk zu kooperieren. Maßgeblich für die Richter sind die Zusicherungen von UN-Offiziellen

von Michael Thaidigsmann  23.10.2025

Berlin

Jüdische Studenten fordern Geraldine Rauchs Abgang

Die Präsidentin der Technischen Universität Berlin warnte vor »Muslimfeindlichkeit« bei einer jüdisch-kurdischen Veranstaltung. Die JSUD wirft ihr vor, autoritär zu reagieren. Kritik kommt auch von CDU und SPD

 23.10.2025

USA

Gebrochene Identität

Wie sich junge Juden zunehmend von Israel und ihrem Judentum entfernen. Geschichte einer Entfremdung

von Hannes Stein  23.10.2025

Meinung

Liebe Juden, bleibt bitte zu Hause!

Immer mehr jüdische Veranstaltungen werden abgesagt – angeblich zum Schutz von Jüdinnen und Juden. So wird aus einer Einladung zur Kultur ein stiller Abgesang auf Teilhabe

von Louis Lewitan  23.10.2025

Waffenimport

Milliardendeal: Bundeswehr kauft israelische Panzerabwehrraketen

Trotz des von Kanzler Friedrich Merz verhängten Exportstopps für Waffenlieferungen an den jüdischen Staat bezieht Berlin weiterhin auch andere Rüstungsgüter von dort

 23.10.2025

Berlin

Angela Merkel reist im November nach Israel

Von ihr stammt die Aussage, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist. Nun kehrt die frühere Kanzlerin dorthin zurück. Es gibt einen erfreulichen Anlass

 23.10.2025