Die frischen Nähte auf meinem Unterbauch schmerzten unter den Wundpflastern, während ich, von meinen Liebsten umzingelt, auf dem Sofa saß. Auf dem großen Fernsehbildschirm vor mir tauchten immer wieder andere Gesichter auf, die mir liebe Glückwünsche zu meinem 30. Geburtstag schickten und mir viel Erfolg bei meiner Aus- beziehungsweise Einwanderung nach Israel wünschten.
Es war ein Geburtstags-Abschiedsvideo, das meine Schwester für mich organisiert hatte. In drei Wochen würde ich in einem Flugzeug mit einem blauen Davidstern sitzen, das beim Abheben Polizeischutz bekommt, wie alle Flieger der israelischen Airline EL AL. Das liegt an mehreren Flugzeugentführungen und terroristischen Angriffen in den 60er- und 70er-Jahren, bei denen palästinensische Terroristen auf diesem Weg Straftäter aus israelischen Gefängnissen freipressen wollten – und zum Teil auch erfolgreich freigepresst haben. Nicht alle Geburtstagsgäste um mich herum verstanden, warum ich mein komfortables Leben in Deutschland gegen ein Leben in einem Land mit Dauerkonflikt eintauschen wollte. Noch weniger angetan davon waren meine Familienmitglieder, die sich Sorgen machten.
Nicht alle verstanden, warum ich mein komfortables Leben in Deutschland gegen ein Leben in einem Land mit Dauerkonflikt eintauschen wollte.
Obwohl sie sehr stolz waren, dass ich das renommierte IJP-Journalistenstipendium für den Mittleren Osten erhalten hatte, war die Vorstellung, dass ich als Kriegsreporterin allein im Nahen Osten unterwegs sein und offiziell israelische Staatsbürgerin werden würde, ein extremer Einschnitt für alle Beteiligten. Vor allem, weil ich gerade erst heute aus dem Krankenhaus entlassen worden war, um meinen Geburtstag im engsten Kreis feiern zu können.
Zwei Wochen lang hatte ich unter großen Schmerzen gelitten, bis hin zu einer Notoperation, die mir kurz vor einer Blutvergiftung das Leben gerettet hatte. Die gesamte Zeit über hatte ich gedacht, dass, wenn ich sterben müsste, ich das lieber in Israel tun würde. Ein komischer Gedanke, der mich selbst überraschte. Niemand glaubte daran, dass ich meine Ausreise drei Wochen später tatsächlich antreten würde, doch für mich war es undenkbar, meine Alija, die ich so intensiv vorbereitet hatte, auch nur um einen einzigen Tag zu verschieben.
Mein Vater Jan saß neben mir. Auch er machte sich Sorgen, das wusste ich. Auf der anderen Seite war er aber auch immer derjenige, der mich auf meinem Lebensweg begleitete, statt mir Vorhaltungen zu machen. Er akzeptierte mich und meine Entscheidungen, selbst wenn wir nicht immer einer Meinung waren und unsere Vater-Tochter-Beziehung zeitweise kompliziert war. Kein Einzelfall, sondern eher ganz normal in unserer überschaubaren Familie mit diversen Kindern aus diversen Ehen mit diversen Religionen. Als ich nach dem Tod meiner Mutter beschloss, zum Judentum zu konvertieren, war er einer der Ersten, mit denen ich darüber sprach.
Für mich fühlte es sich an, als wäre ich unterwegs zum Berg Sinai verloren gegangen.
Zunächst war er etwas überrascht, da er weder besonders religiös war noch das Gefühl hatte, dass man einen Giur brauchte, um sein Jüdischsein zu leben oder um unsere Familiengeschichte in Ehren zu halten. Doch für mich war das anders. Ich fühlte mich zwar jüdisch, nur das allein reichte mir nicht mehr. Ich wollte mehr lernen über Gebete und Religion, ich wollte mehr wissen. Und ich wollte ankommen. Für mich fühlte es sich so an, als wäre ich unterwegs zum Berg Sinai verloren gegangen und würde jetzt endlich wieder zu meiner Großfamilie zurückkehren.
Ich wollte unsere Familienlinie flicken
Außerdem wollte ich, dass meine zukünftigen Kinder jüdisch geboren werden würden. Ich wollte unsere Familienlinie flicken, die aufgrund der Schoa so grausam unterbrochen worden war. Und ich wollte verhindern, dass sie sich jemals so zerrissen fühlen würden, wie ich mich oft gefühlt hatte. Ich habe mich immer wie etwas Halbes und nie wie etwas Ganzes gefühlt, zwischen Sprachen, Wurzeln und Nationalitäten – immer teils Tschechin, teils Jüdin, teils Deutsche. Und so zu tun, als ob viele Teile ein Ganzes ergeben, hat zumindest in meinem Fall nicht funktioniert. Ich wage auch zu bezweifeln, dass es für meinen Vater leicht war, auch wenn er das heute mit mehr Abstand möglicherweise anders sieht oder vielleicht auch einfach akzeptiert hat, dass manche Dinge nun einmal so sind, wie sie sind, und sich im Nachhinein auch nicht mehr ändern lassen.
Nachdem er mit meinem Großvater Tomáš aus Prag in Bad Homburg angekommen war, wurde er zum deutschen »Hansi«. Erst als sie ein paar Jahre später ins Frankfurter jüdische Viertel zogen, änderte sich das. Meine Urgroßmutter Zdenka fasste langsam wieder ein bisschen Vertrauen in die Welt um sie herum, ging ab und zu zur Synagoge und zündete Schabbatkerzen hinter zugezogenen Gardinen an. Zu Pessach musste mein Vater Mazzot essen, die ihm als trockenes Knäckebrot in Erinnerung geblieben waren. An Chanukka sah er jeden Abend mehr Kerzen an einem Leuchter brennen, den er sonst nur von jüdischen Freunden kannte.
Er wusste, dass sie irgendwie anders waren, aber darüber gesprochen wurde nicht. Als die Zeit für seine Barmizwa näher rückte, entschied Urgroßmutter Zdenka, dass es nun an der Zeit für meinen Großvater Tomáš sei, langsam wieder zurück in die Synagoge zu kommen, um seinen Sohn in die Gemeinde einzuführen. Wir sprechen hier von einem erwachsenen Mann, der zum letzten Mal zu seiner vorgezogenen Barmizwa ein religiöses Ritual vollzogen hatte, bevor die Nationalsozialisten ihn durch die Hölle schickten und er danach seinen Glauben an Gʼtt verlor.
Mein Großvater fühlte sich an jenem Schabbat, als er wieder die Synagoge betrat, unwohl und beschämt, weil er überhaupt nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Wann musste man aufstehen, sich hinsetzen? Wann ging man drei Schritte vor und zurück, verbeugte sich und knickte in den Knien ein? Auch sprach und las er nur wenig und langsam Hebräisch. Ich vermute, dass er einfach das Gefühl hatte, als Jude unter lauter Juden plötzlich nicht mehr dazuzugehören, nicht mehr jüdisch genug zu sein – was natürlich nicht stimmte, aber aus seiner Perspektive absolut nachvollziehbar war. So verließen Tomáš und mein Vater direkt wieder die Synagoge.
Für meinen Vater, der den ganzen Tag mit jüdischen Freunden spielte und wie alle anderen dazugehörte, war das lange Zeit kein Thema. Auch wuchs mein Vater in einer Zeit und einem Land auf, in dem kaum einer wagte, das Wort Jude in den Mund zu nehmen. Es war mit zu viel Scham und Schuld belastet, man ignorierte es. Erst Jahre später erlebte mein Vater ein paar entscheidende Momente. Als zwei Schulfreunde vor ihm darüber sprachen, dass es schon wieder losgehen würde wie vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem »Judenproblem«, dass die Bockenheimer schon wieder in jüdischer Hand sei und dass es auch an der Schule schon wieder drei Juden gebe, erwachte in meinem Vater seine jüdische Resilienz. Wortlos zog er seine Kette mit einem Davidstern-Anhänger unter seinem Hemd hervor, die mein Großvater ihm aus Israel mitgebracht hatte, und hielt ihn seinen Freunden unter die Nase: »Ihr habt euch verzählt. Es gibt vier Juden.« Danach drehte er sich um – und die Freundschaften waren vorbei.
Schon mein Vater überlegte, zum Judentum zu konvertieren
Kurz darauf fragte er seine Großmutter Zdenka an ihrem Geburtstag, was sie davon halten würde, wenn er ganz offiziell zum Judentum konvertieren würde. Obwohl er sich in der Synagoge, in die sie ihn manchmal mitgenommen hatte, immer wie ein Tourist gefühlt und auch keinen religiösen Ansporn gespürt hatte, hatte er sich, sobald er konnte, selbst vom evangelischen Religionsunterricht in der Schule abgemeldet. Er identifizierte sich mehr als Jude als mit irgendetwas anderem, jedoch eher aus einer kämpferischen als aus einer religiösen Haltung heraus.
Ich finde es spannend, dass sich dies durch alle Generationen in unserer Familie zieht. Und bis heute bin ich nicht sicher, ob meine Urgroßmutter Zdenka mit einer Verneinung auf seinen Wunsch (um ihn zu schützen) nicht verhindert hat, dass er seine Identität noch ein Stück weit mehr hätte entfalten können. Aber das ist meine Meinung. Mein Vater ging schließlich Jahre später als Filmproduzent nach Hollywood, wo er von all seinen jüdischen Freunden und Kollegen als »Vaterjude« ganz selbstverständlich als einer von ihnen gesehen, akzeptiert und willkommen geheißen wurde. Für ihn war das Ganze weniger ein Thema beziehungsweise eine Identitätskrise als für mich, die sich besonders in Deutschland als nichts Ganzes und nichts Halbes fühlte.
Leider kenne auch ich das Gefühl, wenn man in die Synagoge geht und sich unsicher fühlt, weil man nicht selbstverständlich mit all den Gepflogenheiten und Traditionen aufgewachsen ist. Bedauerlicherweise gibt es leider in jüdischen Gemeinden auch immer mal wieder Menschen, die einen naserümpfend mustern. Zum Glück ist die Mehrheit aber anders, sie hat mich bei meinem Prozess begleitet, mich an ihren Schabbat-Tisch eingeladen, mit mir diskutiert und Wissen vermittelt und mich auf meinem Weg unterstützt.
Was die meisten Nichtjuden nicht zu wissen scheinen, darunter auch viele Journalistinnen und Journalisten: Sobald man vom jüdischen Gericht, dem Rabbanut, akzeptiert wurde und in der Mikwe ein rituelles Bad genommen hat, ist man Jude beziehungsweise Jüdin – und nicht mehr Konvertit oder Konvertitin. Sobald der Übertritt vollzogen ist, ist man jüdisch. Und es gehört sich ab diesem Zeitpunkt auch nicht mehr, jemanden so zu nennen oder sogar darauf anzusprechen. Etwas, das einige wohl bis an mein Lebensende dennoch machen werden, weil sie so versuchen, meinen jüdischen Status infrage zu stellen und zu delegitimieren.
Das sind Menschen, die keine Ahnung von unseren Familiengeschichten und Traumata haben und so lediglich ihren eigenen Teil zu einer langen Reihe der Verfolgung und Folgen beitragen. (…)
Ich habe mich immer wie etwas Halbes und nie wie etwas Ganzes gefühlt.
Mittlerweile tangieren mich diejenigen, die mich und meine Identität anfeinden, nicht mehr, weil ich in meinem Glauben, meiner Herkunft und mir selbst gefestigt bin – und ja, weil ich einen orthodoxen und halachisch anerkannten Giur vollzogen habe. Ich kann sagen, dass ich angekommen bin, was nicht gleichbedeutend damit ist, dass man nicht jeden Tag dazulernt und das Leben weiterhin eine intensive Reise ist. Dafür macht es mich heute umso glücklicher, dass, obwohl auch ich nicht meine Kindheit jeden Schabbat in der Synagoge verbracht oder auf Mahane – ins jüdische Ferienlager – gefahren bin, meine eigenen Kinder heute ganz selbstverständlich jüdisch sind und leben, begeistert in die Synagoge gehen, Hebräisch sprechen und singen, Kerzen anzünden und in ihren Kindergärten ganz viel über unsere Traditionen lernen.
Sarah Cohen-Fantl: »Wie alles begann und sich jetzt wiederholt. Meine jüdische Familiengeschichte«. Bonifatius, Paderborn 2025, 304 S., 25 €
Abdruck mit freundlicher Genehmigung.