Antisemitismus

Verheerende Bilanz

Antisemitismus

Verheerende Bilanz

Monika Schwarz-Friesel über »toxische Sprache und geistige Gewalt«

von Olaf Glöckner  11.08.2022 08:05 Uhr

Seit mehr als 20 Jahren analysiert Monika Schwarz-Friesel Judenfeindschaft verschiedenster Couleur. Nun legt die renommierte Kognitionswissenschaftlerin eine Analyse vor, die den Bogen von der Spät­antike bis ins Deutschland des 21. Jahrhunderts schlägt.

Ihr Befund: Das »Gift judenfeindlichen Denkens und Fühlens« sei Teil unserer Kultur, antisemitische Sprachgebrauchsmuster würden bis heute von Generation zu Generation weitergegeben. Eine heilende Zäsur habe es laut Schwarz-Friesel nie gegeben, auch nach der NS-Diktatur und der Schoa nicht.

hass In ihrem neuen Buch Toxische Sprache und geistige Gewalt erklärt die Linguistik-Professorin der Technischen Universität Berlin auf komplexe und doch verständliche Weise, wie sprachliche Strukturen eigene Welten erschaffen, die wenig mit Realität und doch viel mit Hass zu tun haben.

Schwarz-Friesel ist eine Verfechterin der Textweltmodelltheorie (TWM), nach der sich Deutungsschemata bei Sprachverarbeitung im Kopf automatisch und reflexiv aufbauen. Das Gehirn eines Rezipienten unterscheide so »am Ende nicht, ob ein Neonazi, ein linker Journalist, ein Nobelpreisträger oder ein Professor Antisemitismen kommuniziert hat, ob diese intentional oder nicht intentional und in welcher Situation sie geäußert werden«.

Wenig Verständnis hat die Autorin für die verbreitete Scheu, judenfeindliche Äußerungen bei Mitgliedern von Minderheiten zu kritisieren, weil diese selbst Opfer von Diskriminierungen waren und sind.

Zugleich nimmt die Autorin uns mit auf einen fast 2000 Jahre umfassenden historischen Rekurs – und die Bilanz ist verheerend. Aus ursprünglicher Konkurrenz zwischen Christentum und Judentum wird die Hass-Rhetorik früher Kirchenväter wie Gregor von Nyssa und Augustinus später zehntausendfach von den Kanzeln gepredigt, bis nicht nur das einfache Volk, sondern auch geistige Eliten und neue Meinungsbildner das Gift der Judenfeindschaft verinnerlicht haben.

israelfeindschaft Eine besondere Stärke des Buches ist die Fülle von Beispielen, an denen sich die verhängnisvolle Mischung von antijüdischem Vorurteil, aversiven Reflexen und Bagatellisierung von Juden- und Israelfeindschaft ablesen lässt.

Hier sieht die Autorin auch die Medienberichterstattung in der Mit-Verantwortung und schreibt: »Wenn dann viel gelesene Journalisten das alte Klischee der jüdischen Rachsucht und Machtausübung sowie den ›Kreislauf der Rache‹ bedienen, Gaza metaphorisch mystifiziert ›einen Ort aus der Endzeit des Menschlichen‹ nennen, in Talkshows gern eingeladene Publizisten Gaza als ›weltgrößtes Konzentrationslager‹ und Israel geschichtsverfälschend als ›europäische Kolonie auf arabischem Boden‹ bezeichnen, erhält die Leser- und Zuschauerschaft genau den Stoff, aus dem Antisemitismus fabriziert ist.«

Was bleibt, um der toxischen Sprache den Kampf anzusagen? Die Autorin plädiert für eine »kommunikative Ethik«, die die Macht und das Gewaltpotenzial von Sprache berücksichtigt und bei aller benötigten Meinungsfreiheit dann Einspruch erhebt, wenn giftige und vergiftende Wörter ins Spiel kommen.

Wenig Verständnis hat die Autorin für die verbreitete Scheu, judenfeindliche Äußerungen bei Mitgliedern von Minderheiten zu kritisieren, weil diese selbst Opfer von Diskriminierungen waren und sind. »Wie oft ducken sich die Vertreter der öffentlichen Meinung über klar antisemitische Äußerungen von Muslimen oder Schwarzen hinweg, thematisieren sie nicht als das, was sie sind.« Das sei, so Schwarz-Friesel schließlich, »Eyes wide shut«.

Monika Schwarz-Friesel: »Toxische Sprache und geistige Gewalt«. Narr Francke Attempto, Tübingen 2022, 228 S., 17,99 €

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Nach zwölf Jahren kommt nun die Fortsetzung des Weltbestsellers ins Kino

von Peter Claus  25.12.2025

ANU-Museum Tel Aviv

Jüdische Kultobjekte unterm Hammer

Stan Lees Autogramm, Herzls Foto, das Programm von Bernsteins erstem Israel-Konzert und viele andere Originale werden in diesen Tagen versteigert

von Sabine Brandes  25.12.2025

Menschenrechte

Die andere Geschichte Russlands

»Wir möchten, dass Menschen Zugang zu unseren Dokumenten bekommen«, sagt Irina Scherbakowa über das Archiv der von Moskau verbotenen Organisation Memorial

 25.12.2025

Rezension

Großer Stilist und streitbarer Linker

Hermann L. Gremliza gehört zu den Publizisten, die Irrtümer einräumen konnten. Seine gesammelten Schriften sind höchst lesenswert

von Martin Krauß  25.12.2025

Glastonbury-Skandal

Keine Anklage gegen Bob-Vylan-Musiker

Es lägen »unzureichende« Beweise für eine »realistische Aussicht auf eine Verurteilung« vor, so die Polizei

 24.12.2025

Israel

Pe’er Tasi führt die Song-Jahrescharts an

Zum Jahresende wurde die Liste der meistgespielten Songs 2025 veröffentlicht. Eyal Golan ist wieder der meistgespielte Interpret

 23.12.2025

Israelischer Punk

»Edith Piaf hat allen den Stinkefinger gezeigt«

Yifat Balassiano und Talia Ishai von der israelischen Band »HaZeevot« über Musik und Feminismus

von Katrin Richter  23.12.2025

Los Angeles

Barry Manilow teilt Lungenkrebs-Diagnose

Nach wochenlanger Bronchitis finden Ärzte einen »krebsartigen Fleck« in seiner Lunge, erzählt der jüdische Sänger, Pianist, Komponist und Produzent

 23.12.2025

Hollywood

Timothée Chalamet – der neue Leonardo DiCaprio?

Er gilt aktuell als einer der gefragtesten Schauspieler. Seine Karriere weckt Erinnerungen an den Durchbruch des berühmten Hollywood-Stars, der ihm einen wegweisenden Rat mitgab

von Sabrina Szameitat  22.12.2025