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Selbstermächtigung oder Männerfantasie?  

Der russisch-französische Schriftsteller Joseph Kessel (1998 - 1979) Foto: picture-alliance / dpa

Warum nur lässt sich eine bildschöne Frau aus gutbürgerlichen Verhältnissen freiwillig in einem Bordell misshandeln, demütigen und sexuell missbrauchen? Als Joseph Kessel diese sexuelle Fantasie 1928 in seinem Roman »Belle de jour« detailliert und freizügig beschrieb, sorgte der Autor für einen handfesten Skandal.

Die Figur der Severine, die ein Doppelleben führt und ihren Gatten, einen angesehenen Zahnarzt, mit Dutzenden von Freiern betrügt, galt in der zeitgenössischen Literaturkritik als »veritables Ungeheuer«. Kessel habe dieses Buch wohl nicht geschrieben, »um das Ansehen der französischen Frau im Ausland zu steigern«, spottete etwa das Hochglanzmagazin »La femme de France«.

Im Gegensatz zum Roman, der zu Zeiten einer konservativen Sexualmoral noch für Empörung sorgte, profitierte Luis Buñuel Verfilmung aus dem Jahr 1967 von einer liberaleren gesellschaftlichen Stimmung. »Belle de jour«, einer der erfolgreichsten Filme des spanischen Meisterregisseurs, wurde für seine teils surrealistische Inszenierung sowie das charismatische Spiel von Catherine Deneuve gelobt.

Spekulativ und reißerisch

Die Französin Manon Prigent interessiert sich aber weniger für die berühmte Adaption, deren Bilder sie allenfalls als Illustration heranzieht. Ihre Dokumentation aus der Arte-Reihe »Skandale der Weltliteratur« wirft die Frage auf, wie realistisch die Figur einer solchen Frau überhaupt ist, die sich aus freien Stücken prostituiert: Ist das weibliche Selbstermächtigung oder nur eine Männerfantasie?

Dieser Frage nähert sich die Dokumentation auf vielschichtige Art an. So erinnert der Film unter anderem daran, dass der Roman »Belle de jour« zu einer Zeit erschien, als Sex für Frauen etwas war, »dem sie sich nicht willig hingaben«. Die Geschichte einer Frau, die das Korsett dieser bürgerlichen Sexualmoral sprengt, erschien unter der Feder von Joseph Kessel allerdings spekulativ und reißerisch.

Lange Zeit nahm man den Autor von »Die Spaziergängerin von Sans-Souci« literarisch nicht ernst, erst 1962 wurde er in die prestigeträchtige Académie française aufgenommen. Auf die schillernde Geschichte dieses russischstämmigen Juden, der sich auch als Kriegsberichterstatter und Auslandskorrespondent einen Namen machte - und dabei auch einmal Adolf Hitler traf -, geht die Dokumentation nur am Rande ein.

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Elaboriert und witzig

Interessanterweise erhielt der Autor seinerzeit zahlreiche Zuschriften begeisterter Leserinnen, die sich mit der Hauptfigur aus »Belle de jour« identifizierten. Um dem Geheimnis des Buchs auf die Spur zu kommen, geht Manon Prigent daher anders vor als in konventionellen Kulturdokumentationen, in denen Literaturwissenschaftler den Sachverhalt in den akademischen Diskurs einspinnen.

Stattdessen kommen Prostituierte zu Wort, die ihrer »Kollegin« Severine bei der Arbeit über die Schulter blicken. Unter ihnen befindet sich Emma Becker, die zwei Jahre in Berlin als Prostituierte arbeitete. Ihre Erlebnisse protokollierte sie in dem autofiktionalen Roman »La Maison«, der 2022 mit Ana Girardot in der Hauptrolle verfilmt wurde.

Die Urteile dieser Professionellen sind elaboriert, teilweise recht witzig - und sie eröffnen eine neue Perspektive. So erklärt eine Bordellwirtin, die Szenen über das tatsächliche Geschäft der Prostitution seien im Buch »zum Totlachen«. Aus der Perspektive von Frauen, die das Geschäft aus eigener Erfahrung kennen, erscheine die im Roman ausgeschmückte Prostitution nicht glaubhaft. Gerade weil Kessel auf seine eigenen, männlichen Erfahrungen als Bordellbesucher zurückgriff, ginge es ihm nicht wirklich um das literarische Ausloten weiblicher Erfahrung mit Sexualität.

Archetypische Imagination

Dass die Figur der Severine psychologisch nicht glaubhaft ist, hat man sich gewiss vorher schon denken können. Über diesen Gemeinplatz hinaus verdeutlicht die Doku, dass es in »Belle de jour« um die typisch männliche Fantasie einer Feminisierung geht. Kessel führt die archetypische Imagination eines Mannes vor, der sich die Frau nur »in der Rolle der Prostituierten vorstellen kann«.

Durch den Kunstgriff, Frauen aus dem Gewerbe einen Schlüsselroman über Prostitution kommentieren zu lassen, verknüpft die Dokumentation Literaturgeschichte mit einer feministischen Sichtweise der Gegenwart. Problematisch an diesem Ansatz ist jedoch, dass der Blick auf das Gewerbe sich auf die Perspektive der Frauen verengt, die intellektuell reflektiert erscheinen, fast so wie Studentinnen, die den Beruf wechselten.

Alltägliche Gewalt von Zuhältern? Die thematisiert der Film kaum. Die traurige Wirklichkeit von Massenbordellen, in denen Frauen unter sklavenähnlichen Bedingungen ihre »Sexarbeit« verrichten, kommt nicht vor. Sehenswert ist der Film dennoch. Denn die schillernde Figur der Severine bekommt am Ende mehr und mehr Risse. Man erahnt die Faszination eines Skandalromans, der mit weiblicher Selbstermächtigung nur ganz am Rande zu tun hat. 

»Belle de jour - Schöne des Tages. Ein Roman, ein Film, zwei Skandale«, Regie: Manon Prigent, Arte, 29.10., 21.35 Uhr.

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