Romane

Neuentdeckte Exil-Literatur: »Requiem« von Karl Alfred Loeser

Foto: imago images/U. J. Alexander

Mindestens 4000 Musiker - Sänger, Dirigenten, Komponisten – sind während der Nazi-Diktatur ins Exil gezwungen worden, die meisten von ihnen waren Juden. Es finden sich viele berühmte Namen darunter wie etwa Kurt Weill, Friedrich Hollaender, Otto Klemperer und andere.

Norbert Loeser (1906-1958) dürfte dagegen nur den wenigsten bekannt sein. Dem aus Westfalen stammenden jüdischen Pianisten, Komponisten und Musikkritiker gelang es, noch rechtzeitig in die Niederlande zu fliehen. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 überlebte er dort im Untergrund.

Künstlerroman Sein ebenfalls musikalisch begabter jüngerer Bruder Karl verfasste als Emigrant in Brasilien einen vom Schicksal Norbert Loesers inspirierten Künstlerroman. Jahrzehntelang schlummerte das Manuskript ungelesen in einer Schublade, bis ein Urgroßenkel darauf stieß. Jetzt ist es unter dem Namen »Requiem« vom Klett-Cotta-Verlag veröffentlicht worden. Der Stuttgarter Verlag hat bereits Erfahrung mit wiederentdeckter Exil-Literatur. Vor einigen Jahren wurde »Der Reisende« von Ulrich Alexander Boschwitz ein internationaler Überraschungserfolg.

In »Requiem« schildert Karl Loeser, wie der begnadete jüdische Cellist Erich Krakau, Mitglied am städtischen Symphonieorchester, Opfer einer beispiellosen Intrige wird. Ein freundlicher Charakter und ganz der Schönheit der Musik hingegeben, lebt Krakau inmitten der anschwellenden Gefahr und des wachsenden Antisemitismus arglos in seiner künstlerischen Blase. Er fühlt sich durch seine prominente Stellung und das Wohlwollen seiner Kollegen geschützt. Den Ratschlag eines befreundeten Arztes, mit ihm ins Exil zu gehen, lehnt er ab.

Die eingefädelte Intrige gegen ihn ist so aberwitzig, dass sie zunächst kaum erfolgversprechend erscheint. Ein dilettierender Musiker und Mitglied der SA, der 22-jährige Bäckerssohn Fritz Eberle, hat sich in den Kopf gesetzt, den großen Cellisten zu entmachten und sich anschließend selbst an seine Stelle zu setzen. Hass und Rachsucht treiben ihn an. Zu seinem Helfershelfer macht er einen schmierigen Boulevardjournalisten, den er für seine Hetzkampagne gut bezahlt.

Kämpferin Ein Konzert mit Krakau wird von einem randalierenden SA-Trupp gestört, der Cellist wird inmitten des Tumults festgenommen und verschwindet im Gefängnis, wo schon zahlreiche andere Juden eingesperrt sind. Sein Schicksal scheint besiegelt. Doch er hat treue Verbündete. Da ist zunächst seine Frau Lisa, die sich als couragierte Kämpferin erweist. Theaterdirektor Berkoff und Kapellmeister Jung haben sich auch unter den veränderten Machtverhältnissen ihre Integrität und Menschlichkeit bewahrt, lassen sich nicht korrumpieren und versuchen, den geschätzten Musiker zu retten.

Aber es gibt auch die anderen, die Karrieristen, die Opportunisten, die Gleichgültigen, die ihr Fähnlein nach dem Wind hängen und noch jede Willkür und brutale Unterdrückung mit fadenscheinigen Gründen rechtfertigen. Loeser macht diese sehr gängige »Mitläufer«-Position am Oberspielleiter Brünn fest, der meint, es bleibe einem in diesen Zeiten gar nichts »anderes übrig, als mit den Wölfen zu heulen.«

Ein anderer Fall ist der des Gauleiters von Oertzen, kein eingefleischter Nazi. In seiner Stellung gefährdet, versucht er sich selbst auf Linie zu trimmen: »Er verdammte das weibische Mitleid, die philanthropische Schwärmerei, die die Deutschen daran hinderten, hart zu werden, so hart, wie es nötig sei, um sich wieder zu erheben und nimmermehr zu beugen.«

Vor allem beim Blick hinter die Theaterkulissen, bei der Analyse der verschiedenen Standpunkte zum bedrohten Kollegen zeigt sich Loesers intime Kennerschaft. Einigen hat er seine eigene Meinung explizit in den Mund gelegt. Andere Figuren, vor allem der »Bäckerjüngling« Eberle, stehen fast schon karikaturhaft als Symbol nationalsozialistischer Anmaßung.

Loeser entwickelt in »Requiem« ein atemberaubendes, zunehmend sich verdichtendes und beklemmendes Szenario, in dem er jedoch einen Spalt Hoffnung lässt, dass am Ende doch noch die Menschlichkeit siegt.

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  15.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025

Kino

Zwischen »Oceans Eleven« und Houdini-Inszenierung

»Die Unfassbaren 3« von Ruben Fleischer ist eine rasante wie präzise choreografierte filmische Zaubershow

von Chris Schinke  13.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 13.11.2025

Film

Dekadenz, Krieg und Wahnsinn

»Yes« von Nadav Lapid ist provokativ und einseitig, enthält aber auch eine tiefere Wahrheit über Israel nach dem 7. Oktober

von Sascha Westphal  13.11.2025

Kolumne

Hineni!

Unsere Autorin trennt sich von alten Dingen und bereitet sich auf den Winter vor

von Laura Cazés  13.11.2025

Zahl der Woche

-430,5 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 12.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. November bis zum 20. November

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025