Wuligers Woche

Nachbarn

Stolpersteine in der Berliner Sybelstraße Foto: Michael Wuliger

Wuligers Woche

Nachbarn

Wie man Erinnerung pflegt – im wörtlichen und übertragenen Sinn

von Michael Wuliger  23.10.2017 19:54 Uhr

Vor meiner Haustür in der Sybelstraße in Berlin-Charlottenburg sind zwei Stolpersteine in das Straßenpflaster eingelassen. Sie erinnern an zwei Frauen, die einst in dem Gebäude wohnten, in dem ich heute lebe.

Erna Cohn, 1891 als Erna Camnitzer in Staßfurt (Sachsen-Anhalt) geboren, Witwe des 1935 verstorbenen Papierwarenfabrikanten Hermann Cohn aus Luckenwalde, wurde am 19. Oktober 1942 mit 943 anderen jüdischen Berlinern vom Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald in einem verriegelten Eisenbahnzug nach Riga transportiert, wo sie unmittelbar nach der Ankunft drei Tage später zusammen mit den meisten anderen Insassen erschossen wurde.

Auschwitz Sophie Will, ebenfalls Jahrgang 1891, geboren im pommerschen Stargard, ledig, wurde einige Monate später, am 26. Februar 1943, von Grunewald in einem Zug mit 913 Menschen ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihr genaues Todesdatum ist in den Akten nicht verzeichnet. Vor ihrem Transport in den Tod musste Sophie Will mehrere Jahre lang Zwangsarbeit in einer Batteriefabrik in Niederschöneweide leisten.

Die beiden Stolpersteine sind nicht die einzigen in meiner Straße. Fast vor jedem Haus wird auf diese Art an frühere jüdische Bewohnerinnen und Bewohner erinnert, die von dort in den Tod transportiert wurden. Ebenso in den umliegenden Straßen. Mehr als 1300 Stolpersteine gibt es in Charlottenburg, wo vor dem Holocaust besonders viele jüdische Berliner lebten. Doch die Erinnerung an Erna Cohn und Sophie Will sticht heraus.

Während die meisten der kleinen Messingtafeln auf den Gehwegen vor den anderen Häusern inzwischen dunkel angelaufen und kaum mehr lesbar sind, sich auf den ersten Blick fast nicht mehr vom Kopfsteinpflaster abheben, glänzen die Stolpersteine vor unserem Haus immer noch wie vor drei Jahren, als sie dort neu verlegt wurden. Jemand putzt und poliert sie regelmäßig, vermutlich jede Woche. Ist es die Hausverwaltung? Sind es Nachbarn aus dem Gebäude? Ich weiß es nicht.

umstritten Die Stolpersteine, die es inzwischen seit mehr als 20 Jahren gibt, sind bekanntlich umstritten, auch in der jüdischen Gemeinschaft. Kritiker bemängeln, dass hier das Andenken an die Opfer im Wortsinn mit Füßen getreten werde. Befürworter – zu denen ich neige – glauben, dass diese Form des Gedenkens den Holocaust aus der Abstraktion der Millionenzahlen herunterbricht auf die individuellen Schicksale und so nahvollziehbar macht: Jeder der Toten hatte einen Namen, ein Leben, einen Wohnort.

Beide Positionen haben ihre Berechtigung. Die Diskussion über die Stolpersteine wird deshalb weitergehen. Unstrittig aber dürfte sein, dass, wer immer es ist, der die kleinen Messingtafeln für Erna Cohn und Sophie Will regelmäßig putzt, die Erinnerung an diese beiden ermordeten jüdischen Frauen tatsächlich pflegt – im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Ihm, ihr oder ihnen sei dafür gedankt.

In eigener Sache

Bayerische Justizmedaille für Lydia Bergida und Marco Limberg

Justizminister Georg Eisenreich (CSU) ehrt herausragendes Engagement. Zu den Preisträgern gehört der Art Director der Jüdischen Allgemeinen

 22.07.2025

New York

Billy Joel: Habe früher gesoffen wie ein Loch

Im Mai sagte Billy Joel alle seine bevorstehenden Konzerte ab. Der Grund: eine ernsthafte Hirn-Erkrankung. Nun sprach der Musiker in einem Podcast darüber, wie es ihm geht

 22.07.2025

Hamburg

Transfer perfekt: HSV holt Torwart Peretz vom FC Bayern

Aufsteiger Hamburger SV verstärkt seinen Kader mit einem neuen Schlussmann. Daniel Peretz kommt auf Leihbasis aus München und wird sich mit Daniel Heuer Fernandes duellieren

 22.07.2025

Kunst

Enthüllung im Paradies

Navot Miller malt in kräftigen Farben Momente aus dem Leben in New York und Berlin. Derzeit sind seine Werke in der Galerie Dittrich & Schlechtriem zu sehen

von Katrin Richter  21.07.2025

Cuxhaven

Wegner: Macklemore hat Deichbrand-Festival geschadet

Im Prinzip habe Macklemore die Politik der Hamas gerechtfertigt und relativiert, so der niedersächsische Antisemitismus-Beauftragte

von Michael Grau  21.07.2025

München

»Spüre wachsende Sehnsucht nach dem Judentum«

In der ARD-Serie »Die Zweiflers« mimt sie die Tochter einer jüdischen Familie. Auch im echten Leben ist Deleila Piasko Jüdin. Sie macht einen Unterschied zwischen Religion und Kultur

 21.07.2025

Konzerte

Yasmin Levy in Hamburg und Berlin

Yasmin Levy kommt erneut nach Deutschland. Die israelisch-türkische Sängerin bewahrt mit Ladino eine fast vergessene Sprache – und berührt ihr Publikum weltweit

von Imanuel Marcus  21.07.2025

Deichbrand-Festival

Macklemore wirft Israel Völkermord vor

Der Zentralrat hatte vor einem Besuch des Festivals gewarnt

 21.07.2025 Aktualisiert

Lesen

Lieblingsbücher für den Sommer

Redakteurinnen und Redakteure der Jüdischen Allgemeinen geben Tipps für die Urlaubslektüre

 20.07.2025