Volkstanz

Mehr als Folklore im Kibbuz

Auch heute noch beliebt: Volkstanz Foto: Flash90

Getanzt wurde eigentlich schon immer. Man denke an den Tanz um das Goldene Kalb oder an den Mirjams nach der Überquerung des Roten Meeres im Buch Exodus. Bereits zu biblischen Zeiten und ohne Unterbrechung bis heute ist der Tanz für Juden eine tragende Komponente ihrer soziokulturellen Entwicklung.

Wurde im Christentum bereits im Frühmittelalter durch kirchliche Verordnungen das Tanzen wesentlich eingeschränkt, waren Juden davon nicht betroffen, die nun offen gewordene Nischen belegen konnten. Die etwa ab dem 15. Jahrhundert entstandene nichtliturgische Klezmermusik galt bis circa 1930 als reine Tanzmusik, beispielsweise in Form des Freilach oder des Bulgar.

Juden der zweiten und dritten Alija, der Einwanderungswellen nach Palästina 1904 bis 1914 und 1919 bis 1923, die im Wesentlichen aus Russland und Polen kamen, brillierten entweder im klassischen Bühnentanz, wie der aus Odessa stammende Baruch Agadati, oder brachten Volkstänze ihrer alten Heimat mit, etwa Polka, Rondo oder Krakowiak. Die ursprünglich rumänische Hora mutierte in simplifizierter Form sogar zum jüdisch-palästinensischen Nationaltanz.

TANZFESTIVITÄTEN Schon in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es im Jischuw nicht nur, aber vor allem im Kibbuz Ben Schemen nahe der Stadt Lydda (heute Lod) entsprechende Tanzfestivitäten. Insbesondere Immigranten aus dem deutschsprachigen Raum sollten in den folgenden zwei Jahrzehnten die Volkstanz-Szene Palästinas und später Israels formen. Passten jedoch die aus der Diaspora mitgebrachten, eher kulturell statischen Elemente in die Dynamik des Jischuw, einschließlich der glühend heiß mediterranen Sonne, der Sanddünen von Tel Aviv, der trockenen Gebirgslandschaft um Jerusalem, dem aufregend fremden Klang des gesprochenen Hebräisch und Arabisch?

Die üblichen kulturellen Eckpfeiler einer Nation im europäischen Sinne sollten durch den Tanz erweitert werden.

Eingewanderten Komponisten war klar, dass neue Volkslieder, hebräische Musik, nur in Eretz Israel selbst geschaffen werden könnten, so etwa die 1938 veröffentlichte Liederreihe »Folk Songs of the New Palestine«. Analog dazu plädierte Gertrude Kaufmann (1897–1987), geborene Löwenstein und gebürtig aus Leipzig, die sich später Gurit Kadman nannte, in einem Artikel der gewerkschaftseigenen Tageszeitung »Davar« in der Ausgabe vom 5. August 1938 unter der Überschrift »Riqud Amami« (»Folkloristischer Tanz«) dafür, die Volkstänze der Diaspora, namentlich diejenigen Osteuropas, durch eigene, neu zu kreierende zu ersetzen.

Die üblichen kulturellen Eckpfeiler einer Nation im europäischen Sinne wie Sprache, Literatur und Theater in wiederbelebtem Hebräisch sowie Musik und Malerei mit überwiegend bibelbezogenen Themen sollten nun durch den Tanz erweitert werden.

FANTASIEKOSTÜME Das kreative tänzerische Umfeld der jüdischen Einwanderer in Palästina beschränkte sich bis etwa 1940 auf Theaterproduktionen vor allem im expressionistischen und im Ausdruckstanz, namentlich beispielsweise durch Leah Bergstein, Gertrud Kraus oder die Orenstein-Familie. Parallel dazu entstanden im säkularen Umfeld der Kibbuzbewegung Vorführtänze meist in biblischen Fantasiekostümen und vor allem zu religiösen Festen wie etwa dem Laubhüttenfest (Sukkot) mit der letzten Ernte und dem Beginn der Regenzeit, Pessach als Frühlingsbeginn und in Erinnerung an den biblischen Exodus sowie insbesondere das Wochenfest (Schawuot) mit der Frühlingsernte.

Als Prototyp hierfür mag der Tanz »U-Sha’avthem Mayim« gelten, den die erst ein Jahr zuvor aus Montabaur eingewanderte Else Dublon im Juni 1937 im Kibbuz Na’an mit ihrer Vorführgruppe präsentierte, nachdem einige Monate zuvor nach langjähriger Suche nahe des Kibbuz eine Wasserquelle entdeckt worden war. Der Text dazu wurde direkt der Bibel entnommen: »Ihr werdet Wasser schöpfen voll Freude aus den Quellen des Heils« (Jesaja 12,3). Diese ursprüngliche Bühnenversion wurde im Laufe der nächsten Jahre auf die Bedürfnisse des gemeinen Tanzvolks abgestimmt, Auf- und Abgangssequenzen zugunsten einer gewissen Symmetrie im Ablauf abgeschnitten. Nicht zuletzt wurde so über die Bühne der Stil der ersten israelischen Volkstänze geprägt.

Die enthusiastischen ersten Schritte einer eigenständigen Folklore sind ab etwa 1985 zu einer Unterhaltungsindustrie mutiert.

Wann genau die ersten selbst kreierten Volkstänze der jüdischen Einwanderer in den Jahren um 1940 entstanden, ist nicht mehr ganz nachvollziehbar, sodass man sich spätestens mit der ersten von insgesamt fünf Landeskonferenzen für Volkstanz im Kibbuz Dalija, die vom 14. bis 15. Juli 1944 stattfand, auf deren Datum als das der Geburtsstunde des eigenen Volkstanzes einigte.

FOLKLORE Natürlich konnte es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch keine »israelisch« genannten Tänze geben, vielmehr wurden diese – analog etwa zu »Polen« und »polnisch« – »palästinensisch« genannt, denn man lebte ja schließlich in Palästina. Andererseits gab es durchaus auch den Begriff »hebräische Tänze«, eine nicht unübliche Bezeichnung in der späteren britischen Mandatszeit.

Die enthusiastischen ersten Schritte einer eigenständigen Folklore, sicherlich auch ein Ausdruck des damals vorherrschenden pionier-orientierten Zeitgeistes, sind allerdings, parallel zur Entwicklung von Wiedergabetechniken über Schallplatten, Tonband, Kassetten, MiniDiscs, CDs und schließlich Laptops, ab etwa 1985 zu einer eigentlichen Unterhaltungsindustrie mutiert – ganz im Gegensatz zur Errichtung und Erhaltung einer hebräischen Kultur, soweit die Begründer des israelischen Volkstanzes dies im Blickwinkel hatten.

Der Volkstanz in Israel entpuppte sich »als Gemeinschaftserlebnis in einem Maße«, das »den Mitteleuropäer staunen lässt«, so die »Süddeutsche Zeitung«. Wenn auch diese für folkloristisch dogmatische Puristen nicht zu akzeptierende Entwicklung unvorhersehbar war, so kann nicht geleugnet werden, dass das Ergebnis der frühen zionistischen Bemühungen Ausdruck einer eigenständigen kulturellen Komponente ist, die nach rund 80 Jahren längst zu Traditionen mutierte und sich zumindest als national-israelisches, nicht jedoch notwendigerweise allgemein jüdisches Kulturgut entwickelte.

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